Ein dickes Fell
Tolstoi reden. Muß das eine Kuh sein!
Sam hatte schon recht. Das Fläschchen 4711 ließ mir keine Ruhe. So sehr auch ein kleines Schließfach hinter Tonnen von Stahl und was weiß ich für Sicherheitstüren der richtige Platz zu sein schien. Aber das beruhigte mich nicht wirklich. Sicherheitstüren sind keine echte Garantie. Ständig werden sie geöffnet, natürlich von Leuten, die befugt sind. Aber kann man solchen Leuten trauen? Natürlich nicht. Wenn Sam einmal herausbekam, in welchem Schließfach das 4711 lag, würde es ihm wenige Schwierigkeiten bereiten, an den Inhalt zu gelangen. So gesehen waren irgendwelche Idiotenverstecke – Baumhöhlen, Matratzen, Kaffeedosen – sehr viel vernünftiger, weil unauffälliger. Schließfächer, Tresore, Konten, nicht zuletzt Paßwörter, luden geradewegs dazu ein, geknackt zu werden. Ein Paßwort und ein Schließfach verhielten sich wie ein übereifriges Kind in einem Versteckspiel: Hier bin ich!
Ich entschied mich das zu tun, worauf Sam natürlich wartete. Das Fläschchen 4711 aus dem Versteck zu holen und es an einen anderen, einen sichereren Ort zu bringen. Die Möglichkeit, es einfach zu vernichten, es aus dem Schließfach zu nehmen und in der nächstbesten Toilette hinunterzuspülen, verwarf ich endgültig. Solange ich nicht wirklich wußte, womit ich es zu tun hatte, erschien mir dieser Weg zu riskant. Vielleicht hätte ich solcherart ganz Skandinavien verseucht, vielleicht die ganze Welt. Welche dann in einen endlosen Alptraum hinabgesunken wäre, in eine 4711-Hölle.
Ich überlegte, daß der sicherste Weg, den Inhalt dieses Fläschchens zu entsorgen, darin bestehen müßte, daß jemand es zur Gänze austrank. Wobei ich nicht an einen Menschen dachte, der sich gerade im Todeskampf befand und dem ich solcherart zu einer Lebensverlängerung verhelfen würde. Ewiges Leben erschien mir als perverser Kleinbürgertraum, von Großbürgern geträumt. Nein, derartiges kam nicht in Frage. Dann schon eher ein Golem. Ich fand nämlich, daß es bei weitem sinnvoller war, eine tote Masse zu beleben, als eine lebende bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag in der Aufrechten zu halten. Hinzu kam ein urologischer Aspekt. Ein lebender Mensch war schließlich gezwungen, seine Harnblase zu entleeren und solcherart eine Menge Gift auszuscheiden. Da hätte ich das Zeug auch gleich ins Waschbecken schütten können. Anders war die Sache mit einem Golem. Dachte ich mir. Denn ich konnte mir einen solchen Homunkulus schwerlich als jemand vorstellen, der eine harnfähige Stoffwechselschlacke aus seinem Lehmkörper herauspinkelte wie irgendein Herr Maier.
Praktisch betrachtet, suchte ich ein ideales Gefäß für die 4711-Ursuppe. Ein Gefäß, in welchem das kartäusische Elixier seine »Sprengkraft« verlor, indem es einer Verwendung zugeführt wurde, die darin gipfelte, geknetete Erde zum Leben zu erwecken. Wobei es dann der fehlenden Ausscheidung wegen – man kann sich einen Golem ja ebenso wenig schwitzend vorstellen – zu einer Neutralisation des 4711 kommen würde. Zu einem Nutzen, nämlich für den Golem, ohne Nebenwirkung für die Welt. Abgesehen von jener, daß dann erneut ein kräftiger Kerl aus Lehm durch irgendein Ghetto marschieren würde. Aber das erschien mir wirklich als das geringere Übel.
Mir gefiel die Idee. Fehlte freilich der Golem, dem ich das Fläschchen 4711 – an Sam Soluschka vorbei – würde einflößen müssen. Und was sonst noch an Kultischem dazugehörte. (Obgleich ich glaube, daß Kult eine bloße Zierde darstellt. Die Wirklichkeit ist Chemie. Auch die Wirklichkeit des Mystischen und Metaphysischen ist Chemie.)
Wo sucht man einen Golem? In Prag selbstverständlich, obgleich ich wirklich kein Freund von Prag bin. Eine überschätzte Stadt, der alten Substanz wegen, die sich eignet, vor solchem Hintergrund historische Filme zu drehen und junge, reiche Amerikaner zu begeistern, die sonst keine Sorgen haben. Aber was ist schon dran, daß eine Stadt alt ist und vieles Altes erhalten? Was ist an einer Mehlspeise dran, die seit Tagen auf dem Tisch steht, kalt und hart und trocken? Und die man lieber nicht kosten möchte. Mit jedem Tag weniger. Überhaupt diese Tschechen! Leute, die sich mal für einen Schriftsteller als Präsidenten entschieden haben, sind mir verdächtig. Eben weil ich so viel mit Schriftstellern zu tun habe. Lauter Kerle, die mit dem Schreiben nicht wirklich weiterkommen und sich jederzeit zu Präsidenten von allem möglichen wählen lassen
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