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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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den gesamten Raum zu überblicken. Vielmehr vernahm Gude allein die Schritte einiger ferner Personen, wenn es denn überhaupt mehr als zwei waren.
    Er genoß die Ruhe und Leere und genoß nicht zuletzt die hohe Kunst Brassaïs, die in der Behauptung gipfelte, daß nichts so surreal sei wie die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die vor Ort darin bestand, daß sich in den darüberliegenden Stockwerken Menschenmassen in der unglaublichsten und rücksichtslosesten Weise auf die Füße traten, um Kunst zu betrachten, während die Kunstbetrachtung hier unten beinahe völlig zum Erliegen gekommen war. Und Gudes Zehen somit verschont blieben.
    Da sich nun die Möglichkeit ergab, die Ausstellung auch von ihrem Ende her zu beginnen, entschied sich Gude für diese kleine Ungehörigkeit. Da war niemand, der ihn aufhielt, niemand, der ihn behindert hätte. Erst als er an die entfernte Breitseite des rechteckigen Raums gelangt war, begegnete er einer Frau, einer uniformlosen Museumswärterin, die ihr Funkgerät wie einen kurzen, starren Schwanz hinter ihrem Rücken hielt. Sie wirkte verträumt, ihr Schritt absichtslos. Als sie an Gude vorbeiging, bemerkte sie ihn nicht einmal. Vielleicht war sie sediert, vielleicht verliebt. Vielleicht drehte sie schon zu lange ihre Runden in dieser grauen Öde, in welcher die Fotografien wie Ausblicke hinunter ins Tal des Lebens anmuteten.
    Nachdem Gude und die Wärterin sich passiert hatten, wie Jeeps, die mitten in der Wüste beinahe kollidieren, bog der Botschafter um die Ecke einer Stellwand und blieb vor einer Serie von Abbildungen mit dem Titel »Ein Mann stirbt auf der Straße« stehen. Die einzelnen Aufnahmen verhielten sich in der Art von Standfotos eines Films, zeigten denselben Teil einer Straße, von der immergleichen, erhöhten Position aufgenommen. Auf dem Trottoir lag ein Mann, zu weit entfernt, um seinen genauen Zustand beurteilen zu können. Aber da lag er eben, bewegungslos, zunächst von nur wenigen Menschen umringt, dann aber begafft von einer größer werdenden Menge von Passanten. Jemand versuchte ihm zu helfen, wirkte jedoch selbst recht hilflos, einen Arm anhebend wie ein zu breites, zu schweres Ruder. In der Folge fuhr ein Wagen vor, und der Tote oder Halbtote wurde verladen, die Menge zerstreute sich, zum Schluß blieb eine leere Straße, das war es dann.
    Bei der Betrachtung dachte Gude weniger an den sterbenden Mann als an den Fotografen, bedachte die Kaltblütigkeit, die darin bestand, dem Sterbenden nicht zu Hilfe zu eilen, sondern auf der Position des Beobachters zu beharren und das Geschehen festzuhalten. Ein Mann stirbt und ein Kunstwerk entsteht. Gude erschien in dieser Kaltblütigkeit das eigentliche Wesen der Kunst zu bestehen. Ein Fotograf, der sich hätte verleiten lassen zu helfen, wäre dann ein Fotograf ohne Fotografien gewesen und damit gescheitert. Gude dachte an all die Künstler, welche die Kreuzigung Christi thematisiert hatten und fragte sich, ob einer von ihnen bereit gewesen wäre – wenn er denn die Möglichkeit besessen hätte –, diese Kreuzigung zu verhindern, damit aber auch sein Thema zu verlieren. Theoretisch selbstverständlich. Aber auch praktisch? War es denn nicht so, fragte sich Gude, daß jeder Maler, der je eine Kreuzigung zu Bild gebracht hatte, und egal welch hehre Gründe er dafür angab, sich in Wirklichkeit an der Umsetzung dieser Kreuzigung beteiligt, sie gewissermaßen im nachhinein ermöglicht hatte.
    Das waren merkwürdige Gedanken für einen braven Diplomaten. Gedanken, die Gude verstörten, die er eigentlich nicht gedacht haben wollte. Er löste sich – nicht ohne Mühe – von jener Bilderserie eines sterbenden Mannes und setzte seinen Gang durch die Ausstellung fort, betrachtete nun Bilder von Prostituierten, Kleinkriminellen, Barbesuchern, von nächtlichen Straßen und raumfüllenden Schatten, betrachtete das Fleischige nackter Frauen und das Ausgestopfte angezogener Männer, bemerkte die Parallelität der Arbeitslosen in Les Halles und der Fleischer in Les Halles (alle wie auf einem Rembrandtschen Gruppenbildnis) und setzte sich schließlich – die Arbeitslosen und die Fleischer vor sich – auf eine rotbraune, längliche Lederbank. Eine große Müdigkeit überfiel ihn, wie sie in solchen luftarmen Großraumtresoren früher oder später einen jeden packt. Er verschränkte die Arme und schloß seine Augen. Er träumte nicht, er dachte nicht, und sein Atem war eine feine Brise, die hin und her schwang. Ein Diplomat in

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