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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ihm, die markante Biegung des kaiserlichen Zinkens mittels einer Art von Nasenverkrampfung darzustellen.
    »Ihr Sohn«, sagte die freundliche Dame, »besitzt einen ungemein genauen Blick. Das erlebt man selten bei größeren Kindern. Umso älter sie werden, umso mehr stumpfen ihre Sinne ab. Mit achtzehn können sie dann kaum noch einen Vogel von einem anderen unterscheiden. Und halten jedes Gemälde, das sie nicht verstehen, für einen Picasso. Und jede Vase für eine chinesische. Bei ihrem Sohn wird das anders sein.«
    »Schön, daß Sie das glauben. Jedenfalls danke ich Ihnen«, sagte Anna.
    »Ich danke Ihnen«, erwiderte die Frau, reichte Anna die Hand, verabschiedete sich und ging.
     
    Als Anna und Carl eine Weile später die Dürerausstellung verließen und zur Haupttreppe gingen, drangen bereits deutlich die Geräusche großer Erregung und Hektik nach oben. Von der Straße her waren die Sirenen von Polizei und Rettung zu vernehmen. Anna Gemini wußte natürlich, daß die Sanitäter allenfalls eine Betreuung jener Personen würden übernehmen können, die beim Anblick des Toten einen Schock erlitten hatten. Denn tot war der Mann mit Sicherheit. Wobei sie leider nicht hatte verhindern können, daß er mit dem Hinterkopf voran auf den Boden gestürzt war und solcherart eine ziemlich ruhmlose Position eingenommen hatte. Wie jemand, der an einer Turnübung scheitert und nun in diesem Scheitern verharrt.
    Anna unterließ es ganz prinzipiell, ihre Opfer nachträglich anzufassen, selbst mit Handschuhen nicht, da ja auch Handschuhe durchaus Spuren hinterließen. Aber um Spuren ging es nicht wirklich. Es ging um Pietät. Es gehörte sich nicht, jemand umzubringen und dann etwa nach seiner Halsschlagader zu tasten, als wäre man sein Freund und Arzt. Oder eben seine Position verändern, als hätte man die Aufbahrung zu verantworten.
    Unten an der Treppe wurden Anna und Carl zusammen mit anderen Besuchern zurückgehalten, um Teilen des Einsatzkommandos einen freien Weg in das Brassaïsche Schattenreich zu gewährleisten. Man hätte meinen können, die Bewältigung eines Geiseldramas sei hier in vollem Gange, derart rasant und motiviert wirkte die Bewegung der bewaffneten Polizisten, welche durch die Halle eilten und sowohl über die Rolltreppe als auch den Aufzug sich dem Toten auf die konzentrierteste Weise näherten. Geradeso, als sei die Bedrohung, die von einem einzelnen Toten ausging, ungleich animierender.
    Aus alldem ergab sich eine für Anna nicht ganz einfache Situation, da sich in ihrer Handtasche jene mit einem Schalldämpfer versehene Pistole befand. Aber es entsprach nun mal ihrem Prinzip, sich unter keinen Umständen augenblicklich von einem Tatort zu entfernen. Schon allein, um Carl nicht zu hetzen. Davon abgesehen hatte sie Eile noch nie leiden können. Eilige Menschen erschienen ihr als deformiert, verwittert und ausgespült.
    Aber natürlich existiert auch eine Eile, die aufrecht und gerade daherkommt. Und genau mit einer solchen kontrollierten Rasanz hatte man das Gebäude der Albertina abgeriegelt. Nicht zuletzt, da rasch klar gewesen war, daß es sich bei dem Erschossenen um einen norwegischen Diplomaten handelte, was der Angelegenheit eine überaus heikle Bedeutung verlieh. Und den Druck auf die Beamten erhöhte. Sie waren angewiesen worden, keine der üblichen zwangsläufigen Fehler zu begehen. Man wollte sich nicht später von irgendwelchen skandinavischen Affen vorwerfen lassen, geschlafen zu haben.
    Tatsächlich operierte die Wiener Polizei in der aufgewecktesten Weise und versperrte sämtliche Ein- und Ausgänge, sodaß also eine beträchtliche Anzahl von Museumsbesuchern gewissermaßen in der Wiener Polizeifalle saß. Jeder, der das Gebäude verlassen wollte, mußte sich einer Kontrolle unterziehen, da man scheinbar den Täter und die Tatwaffe noch im Gebäude vermutete. Oder ganz einfach eine solche Möglichkeit – ob wahrscheinlich oder nicht – in Betracht zog.
    Nachdem der Platz vor der Treppe wieder freigegeben worden war, gelangten Anna und Carl in das dem Ausgang vorgelagerte Atrium, in dem sich Hunderte aufgeregter und in ihrer Aufregung ungemein gutgelaunter Menschen befanden. Kaum jemand wußte, was genau geschehen war. Man hoffte, daß es etwas Bedeutendes sein würde und man sodann die eigene Zeugenschaft langfristig würde kultivieren können. Und dies alles unter dem Bannstrahl der Dürerschen Jahrtausendkunst.
    Während Anna noch überlegte, in welcher Weise sie zusammen mit

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