Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
Carl war durchaus in der Lage, die Bedeutung von Vorschriften zu erkennen. Und den Reiz ihrer Brechung.
    »Komm«, sagte Anna zu ihrem Sohn, »wir machen einen Spaziergang.«
    Carl vollzog einen Laut, der einen gurrenden Klang besaß. Sodann zeigte er auf die Kirche und blähte seine Wangen auf, um solcherart die massige Gestalt des Gebäudes nachzuformen. Denn Carl imitierte ja nicht nur die Gesichter von Menschen und Tieren, sondern auch die von Gebäuden. Es gelang ihm allen Ernstes ein turm- und brückenartiges Gesicht zu machen, ein Gesicht mit der Schnörkeligkeit einer barocken Fassade oder der durchtriebenen Schlichtheit einer gläsernen Front. Er konnte das. Er schnitt eine fürchterliche Grimasse, und ein architektonisch versierter Mensch hätte sagen können: Hollein. Oder Holzbauer. Oder was auch immer.
     
    Frau Doktor Hagens Beurteilung erwies sich als gerechtfertigt. Tatsächlich hob sich die mädchenhaft vage und spindelige Gestalt Nora Janotas vor dem Hintergrund des noch immer überaus kräftigen Grüns der Bäume und Sträucher stark ab, jedoch nicht in der Art einer Lichterscheinung. Das wäre auch zu banal gewesen, wenn dieses stumme Wesen zu allem Überfluß etwas Engelhaftes oder Auratisches besessen hätte. Nein, diese Frau war schlichtweg abgemagert und eingefallen und stand mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf in der Landschaft. Auch trug sie nicht etwa helle Kleidung, sondern einen dunkelblauen, verwaschenen Trainingsanzug, dessen über die Seiten verlaufendes Muster den ganzen Körper zu stabilisieren schien. Es war betrüblich, mit ansehen zu müssen, wie ein unfrei gewordener Mensch nur noch von Addidas-Streifen aufrecht gehalten wurde. Doch das war eben nicht alles. Diese schwächliche Gestalt besaß die deutliche Ausstrahlung einer Skulptur, einer auf einem Podest stehenden Figur. Das Podest verlieh ihr jene auffällige Präsenz, von der Doktor Hagen gesprochen hatte, auch wenn da natürlich kein Podest zu sehen war. Aber es existierte. Und das gibt es ja wirklich, daß manche Menschen lebenslang auf einer unsichtbaren Erhöhung durch die Gegend laufen und auf diese Weise, so kümmerlich sie sonst wirken mögen, etwas Auserwähltes vermitteln. Als seien sie nicht bloß vom Schicksal, sondern von Gott höchstpersönlich geschlagen worden. Darum das Podest. Als Gottesbeweis.
    Versteht sich also, daß die Katholikin Anna Gemini einer solchen Erscheinung einiges abgewann. Sie näherte sich auf zwei, drei Schritte und stellte sich mit ihrem Namen vor, wobei sie auch jetzt betonte, von Mascha Reti geschickt worden zu sein.
    »Ihre Großmutter hat mich gedrängt herzukommen«, sagte Anna und fügte an, sich unsicher zu sein, ob dies eine gute Idee gewesen sei. Mit jemand sprechen zu wollen, der ja wohl seit geraumer Zeit das Sprechen verweigere.
    »Es gab nichts zu sagen«, erklärte Nora Janota mit einer Stimme, die aller Schwäche zum Trotz eine prägnante Klangfarbe besaß, die Farbe zerstampfter roter Ameisen. Eine Farbe, die das Vorhandensein eines Podests unterstrich.
    »Und jetzt?« fragte Anna. »Jetzt gibt es was zu sagen?«
    Nora Janota hob den Kopf an und blickte ihr Gegenüber mit zwei Augen an, die gut zu einem sentimentalen Boxer gepaßt hätten. Einem Boxer, welcher, möglicherweise ohne wirklich getroffen zu sein, einen getroffenen Eindruck macht. Und der selbst noch im Moment des Triumphs den Standpunkt der Niederlage vertritt. So wie es ja umgekehrt Kämpfernaturen gibt, die mit ausgeschlagenen Zähnen lächeln.
    »Manchmal glaubt man zu wissen«, sagte die sentimentale Boxerin, »es könnte sich etwas ändern. Indem jemand Bestimmter erscheint.«
    »Und jetzt wollen Sie, daß ich so jemand Bestimmter bin.«
    »Meine Großmutter hat von Ihnen gesprochen. Allerdings habe ich ihr nicht geglaubt. Ich hielt Anna Gemini für eine Erfindung. Die Erfindung einer alten Frau, die schon immer zum Phantasieren geneigt hat. Gemini, Gütiger, allein dieser Name.«
    »Was hat sie erzählt?« fragte Anna.
    »Sie hat gemeint, Sie wären Apostolo gewachsen.«
    »Wie Sie schon sagten, Ihre Großmutter neigt zum Phantasieren. Woher sollte sie wissen, wem ich gewachsen bin? Sie kennt mich doch kaum.«
    »Manche Dinge wünscht man sich.«
    »Und was wünschen Sie sich?« fragte Anna.
    »Daß sich Apostolo fürchtet.«
    »Wovor?«
    »Vor Ihnen. Und vor dem Tod, der ihm droht. Durch Sie droht.«
    »Jessasmaria!« stöhnte Anna. »Hat Ihre Großmutter Ihnen also versprochen, ich würde Ihren

Weitere Kostenlose Bücher