Ein dickes Fell
Kindheit, den man auf jedermann hatte anwenden können und den sich die Kinder im Wechselschlag zugeworfen hatten: Steinhof, Steinhof, mach’s T ü rl auf, die Anna kommt im Dauerlauf, und haut si glei aufs erste Bett und schreit i bin der größte Depp.
So sind Kinder nun mal. Nicht sehr korrekt. Und mitunter ziemlich grausam. Ihr großes Plus aber, das der Kinder, besteht wohl darin, nicht auf die Idee zu kommen, sich einen lauen Begriff wie »Sozialmedizinisches Zentrum« auszudenken.
Noch während der Fahrt brachte Anna Gemini per Handy den Namen der Ärztin in Erfahrung, welche Nora Janota – ja, sie war mit dem Komponisten verheiratet – betreute. Wobei Anna auf den Umstand verwies, auf ausdrücklichen Wunsch Mascha Retis mit Nora sprechen zu wollen.
»Aber sehr gerne«, meinte Frau Doktor Hagen. Die überfallsartige Ankündigung Annas schien sie in keiner Weise zu irritieren. Vielmehr erklärte die Medizinerin, Anna und ihren Sohn am Haupteingang in Empfang zu nehmen. Es sei ein herrlicher Tag. Viel zu schade, sich in einem Büro zu unterhalten.
»Sie wußten, ich würde kommen«, sagte Anna, als sie der Ärztin die Hand reichte und sodann ihren Sohn vorstellte, der soeben feuchtes Gras von den Rädern seines Skateboards pflückte.
»Natürlich habe ich das«, antwortete Doktor Hagen und schob ihre Hände zurück in die Taschen eines weißen, offenen Kittels.
»Nein, ich meine, Sie kannten meinen Namen bereits und haben damit gerechnet, daß ich irgendwann anrufen würde.«
»Exakt. Frau Reti hat mich unterrichtet, daß eine Frau Gemini sich demnächst bei mir meldet und daß ich sie doch bitteschön unterstützen möchte.«
»Ist das therapeutisch klug?«
»Was haben Sie denn vor?« fragte die Ärztin, eine von diesen kleinen, dicken Personen, die immer aussehen, als hätten sie eine ganze Semmel im Mund. Was nichts daran änderte, daß sie ein freundliches Gesicht besaß, die Ärztin. Ein freundliches Semmelgesicht.
»Nun, ich möchte mich mit ihr unterhalten«, sagte Anna.
»Ich kenne Nora nicht, ich kenne nur Frau Reti. Und ich denke, Frau Reti will nicht sterben, ohne vorher erfahren zu haben, was eigentlich geschehen ist.«
»Frau Janota redet nicht. Aber das wissen Sie sicher.«
»Ja, das weiß ich. Ich habe auch keineswegs vor, ein Schweigen zu brechen, das nicht gebrochen werden möchte. Ich bin eigentlich nur hier, um … Frau Reti ist zu alt, als daß man ihr einen Wunsch abschlagen könnte.«
»Ja«, meinte die Ärztin mit Leidensmiene, »diese alten Leute haben so eine gewisse Art sich durchzusetzen. Fragile Eisbrecher. Man müßte ihnen ausweichen können. Aber für Eisbrecher sind sie wiederum ziemlich wendig.«
»Ich will keinen Schaden anrichten«, sagte Anna.
»Sie sind eine Besucherin, das ist alles. Eine Besucherin, die willkommen ist. Was bedeutet, daß Frau Janota einverstanden ist, Sie zu sehen. Darauf kommt es an, auf nichts anderes. Ich weiß nicht warum, aber sie hat mir zu verstehen gegeben, daß sie bereit ist, sich mit Ihnen zu treffen. Und das ist Frau Janotas gutes Recht. Ob sie mit Ihnen auch tatsächlich reden möchte, ist eine andere Geschichte. Was mich im übrigen nichts angeht. Ich bin Frau Janotas Ärztin, nicht mehr. Wenn sie Besuch erhält, ist das eine Privatsache.«
»Ihr Krankheitsbild?«
»Das wiederum, Frau Gemini, geht Sie nichts an. Zumindest kann ich Ihnen keine Auskunft geben. Aber jemand, der nicht mehr redet … Ich bitte Sie.«
»Wo ist Frau Janota?«
»An ihrem Lieblingsplatz. Hinter der Kirche. Sie ist jeden Nachmittag dort oben.«
»Kann ich hinaufgehen?«
»Ich begleite Sie ein Stück«, sagte die Ärztin.
Anna gab Carl ein Zeichen, wies hinauf zu der Kirche, die man von hier unten aber nicht sah. Carl verstand. Er klemmte sein Board unter die Achsel wie einen steif gefrorenen Hasen und lief voraus. Sein Kopf flatterte geradezu im Wind. Ein Wind, der viel zu mild war für die Jahreszeit. Es roch nach Frühling, es roch nach einem überstandenen Winter. Kaum vorstellbar, daß dieser Winter sich gerade erst vorbereitete, vergleichbar einem dieser Gewichtheber, die da ewig lange ihre Hände mit Magnesit einreiben und heftig schnaufen.
»Sie betreuen Ihren Sohn alleine?« fragte die Ärztin.
»Ja, von Anfang an. Er ist ein problemloser Junge, vorausgesetzt man hat die Zeit, in seiner Nähe zu bleiben. Ich habe die Zeit, ich nehme sie mir.«
»Das ist schön. Und es ist schön, wenn eine Mutter ihren heranwachsenden Sohn als
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