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Ein dickes Fell

Titel: Ein dickes Fell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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mit der sie Anna für sich eingenommen hatte.
    »Auf Wiedersehen, Frau Reti! Passen Sie auf sich auf.«
    »Herr Thanhouser wird so frei sein.«
    Anna nickte. Und nickte in der Folge auch hinüber zu jenem mächtigen Ägypter, der eine frische Zigarette wie einen Hundekuchen fallen ließ und sich zurück zu seiner in jeder Hinsicht Schutzbefohlenen begab.
     
    Eine Weile noch sah Anna ihrem Sohn zu, wie er seine Schlangenlinien zog. Er war mitnichten ein begnadeter Skateboarder, wobei sein gekrümmtes Rückgrat und seine motorischen Defizite viel weniger ins Gewicht fielen als seine schlichte Talentlosigkeit. Was ihn mit mehr Menschen verband, als von ihnen trennte. Dinge zu tun, für die man nicht geboren war, die man sich aber mit einem liebenswerten Ungehorsam gegen Gott und die Natur einverleibte. War hingegen ein Talent vorhanden, so gab es kein Defizit, keinen Makel, der sich nicht in das Gegenteil verwandelt hätte. Im Talent mutierte der Makel zum Juwel. Das ganze Gequatsche von wegen, daß erst der Fleiß das Genie gebar, entsprach einem bürgerlichen Traum, den selbst noch die unbürgerlichen Künstler träumten. Die Fleiß-Theorie war ein einziger Betrug an allen und an sich selbst.
    Carl war also kein begnadeter, aber dafür ein glücklicher Skateboarder. Man sah es. Man hörte es. Und Anna genoß den Anblick ihres herumkurvenden Sohnes. Das war sehr viel besser, als sich über die Maschinen-Existenz eines Mannes namens Apostolo und das Elend einer Frau namens Nora Gedanken zu machen.

10 Gespräch mit einem Podest
    Aber Gedanken sind natürlich das, was allgemein von Insekten behauptet wird: lästig. Anna hatte in den folgenden Tagen Mühe, sich auf ihre Renovierungsarbeiten zu konzentrieren. Ihr Kopf steckte in der Vorstellung fest, das Ansinnen Mascha Retis nicht in einer korrekten Weise verworfen zu haben, ja, genaugenommen gar nichts verworfen zu haben. Sie hatte nicht gesagt »ich lehne ab«, sondern »ich werde ablehnen«. Das war ein Unterschied, ein großer dazu. Das klang, wie wenn ein Politiker androhte, er werde zurücktreten, dann und wann, vielleicht, vielleicht in hundert Jahren, und es natürlich eh nie tat. Nein, Anna war sich dessen bewußt, daß nicht nur Frau Retis Bericht diffus geblieben war, sondern daß auch sie selbst eine vollkommen unklare Position eingenommen hatte. Weshalb es nötig gewesen wäre, auch aus Achtung vor diesem alten Menschen, sich ins Auto zu setzen, nach Liesing zu fahren und in eindringlicher und unmißverständlicher Weise darzulegen, in keinem Fall die Ermordung Apostolo Janotas vornehmen zu wollen.
    Genau das wäre zu tun gewesen. Und tatsächlich unterbrach jetzt Anna Gemini ihre Arbeit, rief Carl von einer Kletterübung herunter, und gemeinsam stieg man in den Wagen. Anstatt aber nach Liesing zu fahren, wie die Vernunft mit schwächlichem Flehen eingab, lenkte Anna den Wagen Richtung Norden und fuhr hinüber nach Hütteldorf, um schlußendlich die Baumgartner Höhe anzusteuern, ein idyllisches Stück Wien, grob gesprochen ein lang ausholender Hügel, der nach Süden hin eine aufsteigende Reihe separater Pavillons beherbergte und zuoberst in eine kompakte Jugendstilkirche mündete.
    Diese Anlage, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als Heilstätte für Nerven- und Geisteskranke »Am Steinhof« und als ein – man darf das sagen – Gesamtkunstwerk der Psychiatrie errichtet worden war, und selbstredend während der Nazizeit der Reinwaschung des Volkskörpers gedient hatte, fungierte nun als »Sozialmedizinisches Zentrum«. Das war zwar ein Begriff, den man aussprechen konnte, ohne sich die Zunge zu verknoten, der aber ähnlich wie »Geriatrie« dazu diente, absolut nichts zu sagen. Das war gewissermaßen die Lehre, die man aus den diversen Schrecken der Vergangenheit gezogen hatte, Formulierungen zu kreieren, die nichts sagten, die vollkommen weichgekocht waren. Es gab eine Sprache, die sich von den realen Verhältnissen verabschiedet hatte. Ähnlich wie Architekturen, die den Inhalt und Sinn eines Gebäudes verleugnen. Schornsteine in der Gestalt von Blumenkästen.
    Natürlich wäre es unangemessen gewesen, wie das gemeine Volk von einer Irrenanstalt zu sprechen. Aber »Sozialmedizinisches Zentrum« hörte sich nun mal an, als würden an diesem Ort das ganze Jahr über Weihnachtskekse gebacken werden. Was ja wohl nicht der Fall war. Zumindest nicht während des ganzen Jahres.
    Anna erinnerte sich an einen äußerst populären Spottgesang ihrer

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