Ein dickes Fell
problemlos bezeichnet.«
»Sie meinen, obwohl er behindert ist?« fragte Anna und kniff die Augen zusammen.
»Ganz allgemein. Die meisten Eltern verzweifeln, schauen weg oder nehmen Medikamente. Es tut gut zu sehen, daß es auch anders geht.«
»Haben Sie Kinder?«
»Keine Zeit und keinen Mann. Dafür habe ich meine Patienten. Die kosten mich mehr Nerven, als ich in zwanzig Leben opfern kann. Gott weiß, warum ich diesen Beruf gewählt habe. Vielleicht, weil ich diesen Ort so liebe. Es gibt kaum einen schöneren in Wien.«
»Ja«, sagte Anna, »als laufe man durch eine Villengegend. Eine, die über mehr Platz verfügt als anderswo.«
»Ein Bühnenbild«, erklärte Doktor Hagen. »Alles hier ist ein Bühnenbild. Daran kann auch die Generalsanierung nichts ändern.«
Tatsächlich waren mehrere Baustellen zu sehen, und über der ganzen beschaulichen Gegend lag der Lärm, den die Maschinen verursachten. Ein Lärm, der nahe der Kirche vom Geschrei der Vögel und dem symphonischen Klang bewegter Bäume überlagert wurde.
»Ich verlasse Sie jetzt«, sagte Doktor Hagen. »Sie werden Frau Janota schon finden. Man kann sie, merkwürdigerweise, kaum übersehen. So still und dünn und blaß sie ist, fällt sie auf. Ihre Flüchtigkeit hat einen deutlichen Ausschlag.«
Anna Gemini dankte der Ärztin und sah ihr nach, wie diese mit ihrem Semmelkörper über eine der bemoosten Treppen wieder abwärts stieg. Der Blick auf die Stadt war von Bäumen verdeckt, sodaß man eigentlich nur eine Art Aura wahrnahm, einen gelblichen Schimmer, schwefelig, Teufels Küche, aber eine gute Küche, Wiener Küche eben. Über dem Schwefel stand der blaue Himmel. Wolken in der Gestalt von Fäustlingen zogen rasch vorbei.
Anna wandte sich zur Kirche hin, die zur Gänze in einem massiven Gerüst steckte, wie in einer mehrfachen Zahnspange. Wodurch der wehrhafte, kastenartige Charakter des Baukörpers noch verstärkt wurde. Die Kuppel, die aus dem Gerüst herauswuchs, erinnerte an eine goldene Badehaube. Insgesamt konnte man sagen, daß diese in Renovation befindliche Jugendstilkirche als ein hocheleganter Panzerschrank hätte durchgehen können. Ein Panzerschrank mit Badehaube.
Anna, die die Stufen zur Pforte gestiegen war und durch das Gitter und das Glas des verschlossenen Eingangs ins Innere lugte, erkannte einen beleuchteten Altar. Sie drückte ihre Nasenspitze gegen das Glas und schloß die Augen. Ein kleines Gebet ging durch ihren Kopf: Heiliger Franz von Sales, weise mir den Weg. Und wenn dieser Weg nicht ohne eine Grube, ohne ein Falleisen sein darf, weise mir die Stelle, da ich halten muß.
Anna küßte das Medaillon, das sie stets um ihren Hals trug, und stets verborgen unter Hemd oder Bluse. Kuß ist vielleicht das falsche Wort. Sie legte ihre Lippen sachte auf der silbernen, ovalen Hülse ab, in deren Innerem sich ein Bild ihres favorisierten Heiligen befand, eine originale Miniatur aus der Zeit, da Sales von Papst Pius IX. zum Kirchenlehrer ernannt worden war. Daß Anna dieses fein gemalte, eher für den Biedermeier typische Bildchen in einem kleinen Laden entdeckt hatte, unter allem möglichen Ramsch versteckt, mißbraucht als Lesezeichen in einem Erbauungsbüchlein, war ihr als endgültiges Zeichen dafür erschienen, daß es zwar so etwas wie Zufälle gab, daß aber die Zufälle quasi im Wettstreit miteinander lagen, daß ein Zufall grandioser als der andere sein wollte. Und daß sich aus dieser natürlichen Tendenz der Zufälle eine Bestimmung ergab. Die Bestimmung, den grandiosesten und passendsten unter ihnen anzunehmen. Und genau das hatte sie getan, indem sie im Angesicht dieser Graphik sich endgültig der Verehrung für Franz von Sales verschrieben hatte. Ihre Verehrung war in diesem Moment eine blinde geworden. Darauf bestand sie, auf dem Umstand der Blindheit.
Anna trat zurück auf den schmalen Platz vor dem Gebäude und sah nach oben. Auf dem Gerüst standen ein paar Männer herum, tatenlos, in Mänteln, wahrscheinlich Ingenieure.
Anna winkte Carl zu sich. Er war soeben zum zweiten Mal nach oben gekommen. Die Anlage mit ihren serpentinenartigen Fahrwegen war ideal für einen Skateboardfahrer, obgleich eine derartige Nutzung verboten war. Aber die Verwendung eines solchen Bretts war naturgemäß an Verbote gebunden, führte zwangsläufig in den Bereich einer gewissen Illegalität. Darin bestand ein nicht geringer Teil des Spaßes, sich vierzehnjährig und mit schwungvoller Rasanz über Vorschriften zu erheben. Und
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