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Ein diplomatischer Zwischenfall

Ein diplomatischer Zwischenfall

Titel: Ein diplomatischer Zwischenfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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Angesicht gesehen.
    Sie fand ihn reichlich komisch, nahezu lächerlich. Er entsprach so ganz und gar nicht der Vorstellung, die sie sich von ihm gemacht hatte. Konnte dieser ulkige kleine Mann mit dem eiförmigen Kopf und dem enormen Schnurrbart wirklich alle die Glanzleistungen vollbringen, die man ihm zuschrieb? Seine gegenwärtige Beschäftigung erschien ihr besonders kindisch. Er war eifrig dabei, kleine bunte Holzblöcke aufeinander zu türmen, und dieses Spiel schien ihn mehr zu fesseln als die Geschichte, die sie ihm erzählte.
    Doch als sie plötzlich schwieg, blickte er scharf zu ihr hinüber. »Mademoiselle, fahren Sie bitte fort. Sie denken wohl, ich passe nicht auf, wie? Sie können unbesorgt sein, mir entgeht kein Wort.«
    Und von Neuem begann er das Spiel mit den Holzklötzen, während das junge Mädchen den Faden der Erzählung wieder aufnahm. Es war eine grausige, eine tragische Geschichte! Aber ihrer knappen Darstellung, die sie mit kühler, ruhiger Stimme vortrug, schien eine gewisse menschliche Note zu fehlen.
    Endlich kam sie zum Schluss.
    »Ich hoffe«, sagte sie ängstlich, »dass ich mich klar genug ausgedrückt habe.«
    Poirot nickte mehrere Male heftig mit dem Kopf. Dann fegte er mit einer schwungvollen Handbewegung die Holzpyramide beiseite, sodass die Blöcke über den ganzen Tisch flogen, und lehnte sich in den Sessel zurück. Er presste die Fingerspitzen zusammen, ließ seinen Blick zur Decke schweifen und begann zu rekapitulieren:
    »Sir Reuben Astwell wurde vor zehn Tagen ermordet. Vorgestern wurde sein Neffe, Mr Charles Leverson, von der Polizei verhaftet. Soweit Ihnen bekannt ist – bitte, verbessern Sie mich, falls ich Sie nicht richtig verstanden habe –, sprechen folgende Tatsachen gegen ihn:
    In der Mordnacht saß Sir Reuben bis tief in die Nacht hinein im Turmzimmer, seinem ganz besonderen Heiligtum, und schrieb. Mr Leverson kam spät nachhause, und der Butler, dessen Raum direkt unter dem Turmzimmer liegt, hörte einen heftigen Wortwechsel zwischen ihm und seinem Onkel. Der Streit endete mit einem dumpfen Geräusch, als sei ein Sessel umgefallen, und einem halb erstickten Schrei.
    Der Butler war voller Unruhe und stand auf, um nachzusehen, was eigentlich los sei. Da er jedoch nach ein paar Sekunden hörte, wie Mr Leverson sorglos pfeifend das Turmzimmer verließ, machte er sich weiter keine Gedanken mehr darüber. Aber am folgenden Morgen entdeckte ein Hausmädchen, dass Sir Reuben tot neben seinem Schreibtisch lag. Er war mit einem schweren Gegenstand niedergeschlagen worden. Wenn ich nicht irre, hat der Butler der Polizei nicht sofort mitgeteilt, was er in der Nacht gehört hatte. Ganz natürlich, nicht wahr, Mademoiselle?«
    Die plötzliche Frage ließ Lily Margrave zusammenschrecken.
    »Wie bitte?«, fragte sie.
    »Man sucht in solchen Angelegenheiten doch nach menschlichen Zügen«, sagte der kleine Mann. »Sie haben mir die Geschichte ja wunderbar sachlich beschrieben, aber aus den Personen des Dramas haben Sie leblose Marionetten gemacht. Ich aber gehe der menschlichen Natur nach. Ich sage mir, dieser Butler, dieser – wie war doch sein Name?«
    »Parsons.«
    »Also dieser Parsons hat sicher, wie alle Leute seines Standes, eine tiefe Abneigung gegen die Polizei und wird ihr daher so wenig wie möglich sagen. Vor allen Dingen wird er nichts erwähnen, was ein Familienmitglied belasten könnte. Ein Einbrecher, ein Dieb – ja, an die Idee wird er sich mit seiner ganzen Hartnäckigkeit klammern. Jaja, die Treue und Anhänglichkeit der Dienstboten ist ein interessantes Kapitel.«
    Er lehnte sich lächelnd zurück.
    »Inzwischen«, fuhrt er fort, »hat jeder im Hause seine Version von der Angelegenheit erzählt, auch Mr Leverson. Nach seiner Schilderung ist er spät heimgekommen und sofort zu Bett gegangen, ohne seinen Onkel gesehen zu haben.«
    »Ja, das hat er behauptet.«
    »Und niemand sah sich veranlasst, daran zu zweifeln«, sagte Poirot nachdenklich, »mit Ausnahme von Parsons natürlich. Dann kommt ein Inspektor von Scotland Yard. Mr Miller, sagten Sie doch, nicht wahr? Ich kenne ihn, habe früher ein paar Mal mit ihm zu tun gehabt. Er ist flink wie ein Wiesel, schlau wie ein Frettchen und hat eine ausgezeichnete Spürnase. Ja, ich kenne ihn! Und der wachsame Inspektor Miller sieht, was dem Ortsinspektor nicht aufgefallen ist, nämlich, dass es Parsons nicht ganz behaglich zu Mute ist, dass er etwas weiß und dies bislang verschwiegen hat. Eh bien! Er knöpft sich

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