Ein diplomatischer Zwischenfall
die in der Lage sei, die Arbeit an den Tagebüchern zu übernehmen. Nach Ablauf einiger Tage kam ein Brief in zittriger altmodischer Handschrift, in dem Miss Greenshaw sich bereiterklärte, Mrs Oxleys Dienste in Anspruch zu nehmen und einen Tag festsetzte, an dem Mrs Oxley sich vorstellen sollte.
Lou präsentierte sich pünktlichst zur angegebenen Zeit. Es wurde ein großzügiges Honorar vereinbart, und sie begann gleich am nächsten Tag mit ihrer Arbeit.
»Ich bin dir äußerst dankbar«, sagte sie zu Raymond. »Es passt alles wunderschön. Ich kann die Kinder erst zur Schule bringen, anschließend zu Greenshaws Monstrum gehen und sie auf dem Heimweg wieder abholen. Wie fantastisch das ganze Etablissement doch ist! Die alte Dame spottet jeder Beschreibung.«
Am Abend ihres ersten Arbeitstages berichtete Lou von ihren Erlebnissen.
»Die Haushälterin habe ich kaum gesehen. Sie erschien um halb zwölf mit verächtlich gespitztem Mund und brachte mir Kaffee und Kekse, wobei sie kaum ein Wort mit mir wechselte. Ich glaube, es passt ihr ganz und gar nicht, dass ich engagiert worden bin. Zwischen ihr und Alfred, dem Gärtner, scheint eine große Fehde zu bestehen. Er stammt aus dem Dorf und ist offenbar ziemlich faul. Die beiden reden nicht miteinander. Miss Greenshaw bemerkte in ihrer etwas erhabenen Art: ›Solange ich mich entsinnen kann, bestand immer eine Fehde zwischen dem Garten- und Hauspersonal. Schon zu meines Großvaters Zeiten. Damals hatten wir drei Gärtner und einen Burschen im Garten und acht Mädchen im Haus, und es gab immer Reibereien.‹«
Am folgenden Tag kehrte Lou mit einer anderen Neuigkeit zurück.
»Stellt euch bloß vor«, sagte sie. »Heute Morgen wurde ich gebeten, den Neffen anzurufen.«
»Miss Greenshaws Neffen?«
»Ja. Er ist anscheinend Schauspieler und wirkt bei einer Theatergruppe mit, die Sommervorstellungen in Boreham on Sea gibt. Ich rief das Theater an und ließ ihm bestellen, dass er morgen zum Lunch kommen möchte. Es war ziemlich lustig. Die Alte wollte nicht, dass die Haushälterin etwas davon erfuhr. Ich glaube, Mrs Cresswell hat etwas getan, worüber sie sich geärgert hat.«
»Morgen die nächste Fortsetzung dieses spannenden Romans«, murmelte Raymond.
»Ja, es ist genau wie in einem Zeitungsroman, nicht wahr? Versöhnung mit dem Neffen – Blut ist dicker als Wasser – ein neues Testament – das alte zerstört.«
»Tante Jane, du siehst ja so ernst aus.«
»Meinst du, liebes Kind? Hast du noch etwas von dem Polizisten gehört?«
»Von einem Polizisten weiß ich nichts.«
»Jene Äußerung, die Miss Greenshaw machte, liebes Kind, muss irgendeine Bedeutung gehabt haben.«
Lou kam am nächsten Tag in heiterer Verfassung an ihrer Arbeitsstätte an. Sie schritt durch die offene Haustür – die Türen und Fenster des Hauses standen immer offen. Angst vor Einbrechern schien Miss Greenshaw nicht zu haben, und da die meisten Sachen im Haus mehrere Tonnen wogen und unverkäuflich waren, schien diese Einstellung durchaus berechtigt zu sein.
In der Einfahrt war Lou dem jungen Alfred begegnet. Als sie ihn zuerst erblickte, lehnte er an einem Baum und rauchte eine Zigarette. Doch sobald er sie sah, hatte er einen Besen ergriffen und eifrig Blätter zusammengekehrt. Ein fauler junger Mann, dachte sie, aber gut aussehend. Seine Züge erinnerten sie an jemanden. Als sie auf dem Weg nach oben zur Bibliothek durch die Halle ging, fiel ihr Blick auf das große Bild von Nathaniel Greenshaw, das über dem Kaminsims hing und ihn auf dem Gipfel viktorianischen Wohlstandes darstellte: zurückgelehnt in einem tiefen Sessel, die Hände auf der goldenen Uhrkette ruhend, die sich quer über seinen geräumigen Magen erstreckte. Als ihr Blick hinauf zum Gesicht mit seinen runden Wangen, den buschigen Augenbrauen und dem schwungvollen Schnurrbart wanderte, kam ihr der Gedanke, dass Nathaniel Greenshaw früher einmal ein hübscher Mann gewesen sein musste. Vielleicht hatte er ein wenig wie Alfred ausgesehen…
Sie ging in die Bibliothek und schloss die Tür hinter sich zu. Dann nahm sie die Hülle von der Schreibmaschine und holte die Tagebücher aus einer der Seitenschubladen des Schreibtisches. Durch das geöffnete Fenster sah sie Miss Greenshaw, die sich in einem gelb und braun geblümten Kattunkleid über das Steinbeet beugte und eifrig Unkraut zupfte. Während der letzten beiden Tage hatte es viel geregnet, und da war das Unkraut tüchtig in die Höhe geschossen.
Lou, die in der
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