Ein diplomatischer Zwischenfall
alles auseinandergesetzt. Ich vermache ihr alles, was ich besitze, dann brauche ich ihr keinen Lohn mehr zu zahlen. Dadurch spare ich eine Menge laufender Ausgaben, und es spornt sie etwas an. Vor allen Dingen kann sie mir nicht kündigen und jeden Augenblick einfach davonlaufen. Sie ist sehr großspurig, nicht wahr? Dabei war ihr Vater nur ein kleiner Klempner. Sie hat also gar keine Veranlassung, sich etwas einzubilden.«
Mittlerweile hatte sie das Dokument auseinander gefaltet. Jetzt nahm sie einen Federhalter, tauchte ihn ins Tintenfass und schrieb ihren Namen: Katharine Dorothy Greenshaw.
»So ist’s richtig«, sagte sie. »Sie haben gesehen, dass ich es unterzeichnet habe. Jetzt unterzeichnen Sie, und damit wird es rechtskräftig.«
Sie reichte Raymond West den Federhalter. Raymond zögerte einen Augenblick, da er eine unerwartete Abneigung empfand, dieser Bitte zu entsprechen. Dann kritzelte er rasch den wohl bekannten Namenszug, wofür ihm der Postbote gewöhnlich mindestens ein halbes Dutzend Bittbriefe am Tag brachte.
Horace nahm den Federhalter und fügte seine winzige Unterschrift hinzu.
»Das wäre erledigt«, sagte Miss Greenshaw.
Dann ging sie zu den Bücherschränken und stand unschlüssig davor. Schließlich öffnete sie eine der Glastüren, nahm ein Buch heraus und schob das zusammengefaltete Dokument hinein.
»Ich habe meine besonderen Verstecke«, sagte sie.
»Lady Audleys Geheimnis«, bemerkte Raymond West, der den Titel sah, als sie das Buch wieder an seinen Platz stellte.
Miss Greenshaw brach erneut in Gelächter aus.
»Damals ein Bestseller«, sagte sie. »Im Gegensatz zu Ihren Büchern, wie?«
Sie gab Raymond plötzlich einen freundlichen Stups in die Rippen. Raymond war ziemlich überrascht, dass sie überhaupt wusste, dass er Bücher schrieb.
»Dürfte ich vielleicht«, fragte Horace aufgeregt, »eine Aufnahme von der Uhr machen?«
»Selbstverständlich«, sagte Miss Greenshaw. »Sie stammt, glaube ich, von der Pariser Ausstellung.«
»Sehr wahrscheinlich«, meinte Horace und machte sein Bild.
»Dieser Raum ist seit meines Großvaters Lebzeiten nicht viel benutzt worden«, sagte Miss Greenshaw. »Dieser Schreibtisch ist angefüllt mit seinen alten Tagebüchern. Sicherlich sehr interessant. Meine Augen sind leider so schlecht, dass ich sie nicht selbst lesen kann. Ich möchte sie gern veröffentlichen lassen, aber das erfordert gewiss einige Arbeit.«
»Dafür könnten Sie jemanden engagieren«, schlug Raymond West vor.
»Wirklich? Das wäre überhaupt eine Idee. Ich werde es mir überlegen.«
Raymond West blickte auf seine Uhr.
»Wir dürfen Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte er.
»Ich habe mich sehr über Ihren Besuch gefreut«, sagte Miss Greenshaw huldvoll. »Zuerst hatte ich angenommen, Sie seien der Polizist, als Sie um die Ecke des Hauses kamen.«
»Weshalb gerade ein Polizist?«, fragte Horace, der gern Fragen stellte.
Miss Greenshaw ging anders darauf ein, als sie erwartet hatten.
»Wenn Sie wissen wollen, was die Uhr geschlagen hat, fragen Sie einen Polizisten«, zwitscherte sie. Mit dieser Kostprobe viktorianischen Witzes stieß sie Horace in die Rippen und brach einmal mehr in schallendes Gelächter aus.
»Ein wunderbarer Nachmittag«, seufzte Horace auf dem Heimweg. »Das Haus besitzt wirklich alles. Das Einzige, was in der Bibliothek noch fehlt, ist eine Leiche. Ich bin überzeugt, dass den Verfassern dieser uralten Detektivgeschichten, wo der Mord immer in der Bibliothek stattfand, gerade eine solche Bibliothek vor Augen schwebte.«
»Wenn du dich gern über Mord unterhalten willst«, sagte Raymond, »musst du dich an meine Tante Jane wenden.«
»Deine Tante Jane? Meinst du etwa Miss Marple?« Horace war ein wenig überrascht.
Die bezaubernde, ehrwürdige Dame, der er gestern Abend vorgestellt worden war, schien die letzte Person zu sein, die man irgendwie mit Mordfällen in Verbindung brachte.
»O ja«, erwiderte Raymond. »Mord ist ihre Spezialität.«
»Aber, mein lieber Junge, wie interessant! Doch was willst du eigentlich damit sagen?«
»Genau das«, entgegnete Raymond und fügte erläuternd hinzu: »Manche begehen einen Mord, manche werden in eine Mordangelegenheit verwickelt, und anderen werden Morde aufgedrängt. Meine Tante Jane gehört zur dritten Kategorie.«
»Das soll wohl ein Scherz sein.«
»Durchaus nicht. Ich kann dich an einen früheren Kommissar von Scotland Yard, mehrere hohe Polizeibeamte des Bezirks und
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