Ein diplomatischer Zwischenfall
reizendes Stück. Ich habe dabei geweint, das weiß ich noch. Quality Street – davon war ich nicht sehr erbaut. Dann gab es noch A Kiss for Cinderella. Oh, natürlich.«
Inspektor Welch war nicht geneigt, seine Zeit mit Theaterdiskussionen zu verschwenden, und kehrte zur Sache zurück.
»Eine Frage müssen wir uns stellen«, meinte er. »Wusste Alfred Pollock, dass die alte Dame ein Testament zu seinen Gunsten gemacht hatte? Hatte sie es ihm wohl gesagt?« Dann fügte er hinzu: »Drüben in Boreham Lovell gibt es nämlich einen Bogenschützenclub, und Alfred Pollock ist Mitglied. Er ist sogar ein sehr guter Bogenschütze.«
»Ist dann nicht alles ganz klar?«, fragte Raymond West. »Es würde auch mit den verschlossenen Türen übereinstimmen, denn er wusste ja, wo die Damen sich im Hause aufhielten.«
Der Inspektor blickte ihn an und sagte mit tiefer Melancholie:
»Er hat ein Alibi.«
»Ich meine immer, Alibis sind entschieden verdächtig.«
»Vielleicht, Sir«, sagte Inspektor Welch. »Aber Sie sprechen als Schriftsteller.«
»Ich schreibe keine Detektivromane«, erklärte Raymond West, ganz entsetzt über den bloßen Gedanken.
»Man kann leicht sagen, dass Alibis verdächtig seien«, meinte Inspektor Welch. »Aber unglücklicherweise müssen wir uns an die Tatsachen halten.« Seufzend fuhr er fort:
»Wir haben drei gute Verdächtige. Drei Menschen, die zufällig um die Zeit nicht weit vom Tatort entfernt waren. Doch seltsamerweise hat es den Anschein, als ob niemand von diesen dreien der Täter sein könnte. Über die Haushälterin habe ich schon gesprochen. Der Neffe, Nat Fletcher, war zu der Zeit, als Miss Greenshaw vom Pfeil getroffen wurde, ein paar Kilometer entfernt bei einer Garage, wo er tankte und sich nach dem Weg erkundigte. Und was Alfred Pollock angeht, so wollen sechs Personen beschwören, dass er um zwanzig Minuten nach zwölf das Gasthaus ›Hund und Ente‹ betreten und sich dort eine Stunde bei seinem üblichen, aus Käse, Brot und Bier bestehenden Lunch aufgehalten hat.«
»Das hat er wohl absichtlich getan, um sich ein Alibi zu beschaffen«, sagte Raymond West hoffnungsvoll.
»Vielleicht«, meinte Inspektor Welch. »Aber wie dem auch sei, er hat es jedenfalls beschafft.«
Es folgte ein längeres Schweigen. Dann wandte Raymond sich an Miss Marple, die kerzengerade und nachdenklich in ihrer Ecke saß.
»Nun liegt’s an dir, Tante Jane«, meinte er. »Der Inspektor, der Sergeant, Joan, Lou und ich wir stehen alle vor einem Rätsel. Aber in deinen Augen, Tante Jane, ist doch alles kristallklar. Habe ich nicht Recht?«
»Das möchte ich nicht behaupten«, erwiderte Miss Marple, »nicht gerade kristallklar, und ein Mord, lieber Raymond, ist kein Zeitvertreib. Ich glaube nicht, dass die arme Miss Greenshaw gern sterben wollte, und es war ein äußerst brutaler Mord. Sehr gut geplant und durchaus kaltblütig. So etwas zieht man nicht ins Lächerliche.«
»Ich bitte vielmals um Verzeihung«, sagte Raymond beschämt. »In Wirklichkeit bin ich nicht so abgebrüht. Man behandelt oft manches nicht mit dem nötigen Ernst, um das – das Grausen zu mildern.«
»Das ist, glaube ich, die moderne Tendenz«, sagte Miss Marple. »Alle diese Kriege und die Witze bei Beerdigungen. Ja, es war vielleicht gedankenlos von mir zu sagen, du seist gefühllos.«
»Es ist ja auch nicht so«, warf Joan ein, »als hätten wir Miss Greenshaw gut gekannt.«
»Das ist sehr richtig«, gab Miss Marple zu. »Du, liebe Joan, hast sie überhaupt nicht gekannt. Ich ebenfalls nicht. Raymond hat aus einer kurzen Unterhaltung einen flüchtigen Eindruck von ihr gewonnen, und Lou hat sie zwei Tage lang gekannt.«
»Komm, Tante Jane, verrate uns nun endlich deine Ansichten. Sie haben doch hoffentlich nichts dagegen, Inspektor?«
»Nicht das Geringste«, entgegnete der Inspektor höflich.
»Nun, lieber Raymond, es sieht ja so aus, als hätten wir drei Personen, die ein Motiv für den Mord an der alten Dame hatten oder zu haben glaubten. Und drei einfache Gründe, warum niemand von ihnen es getan haben konnte. Die Haushälterin scheidet aus, weil sie in ihrem Zimmer eingeschlossen war und Miss Greenshaw deutlich erklärt hatte, dass ein Mann auf sie geschossen habe. Der Gärtner, weil er sich zur Zeit des Mordes im Gasthaus ›Hund und Ente‹ aufhielt. Und der Neffe, weil er um diese Zeit mit seinem Wagen noch etwas weiter vom Tatort entfernt war.«
»Sehr klar ausgedrückt, Madam«, lobte der Inspektor.
»Und da es
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