Ein diskreter Held
umdrehte, um mir etwas zu sagen, und ich zu ihm hinschauen konnte, hatte ich schon eine Decke über dem Kopf. Ich bin fast erstickt. Dann habe ich nichts mehr gesehen, bis heute Morgen, als …«
Sie stockte, das Gesicht verzerrt, und Lituma begriff, dass sie sich zusammenreißen musste, um nicht in Tränen auszubrechen. Sie wollte weitsprechen, aber die Stimme versagte ihr. Felícitos Augen flehten um Mitleid mit Mabel.
»Ruhig, ganz ruhig«, tröstete sie Hauptmann Silva. »Sie sind sehr tapfer, Señora. Sie haben Schreckliches mitgemacht und sich nicht unterkriegen lassen. Ich möchte Sie nur um eine letzte kleine Anstrengung bitten. Natürlich wäre es uns lieber, wir müssten nicht davon sprechen und könnten ihnen helfen, all die schlimmen Erinnerungen zu vergessen. Aber diese Schufte, die sie entführt haben, gehören hinter Gitter, müssen bestraft werden für das, was sie Ihnen angetan haben. Sie sind die Einzige, die uns zu ihnen führen kann.«
Mabel nickte, mit einem betrübten Lächeln, gab sich einen Ruck und fuhr fort. Was sie erzählte, klang für Lituma nachvollziehbar, so flüssig, wie sie es vortrug, auch wenn immer wieder das Entsetzen sie packte und sie für ein paar Sekunden verstummte. Dann zitterte sie, wurde bleich, ihr klapperten die Zähne. Ob sie diese Albtraummomente noch einmal durchlebte, die panische Angst, die sie Tag und Nacht gespürt haben musste in der Woche, die sie in den Händen der Mafia war? Aber dann nahm sie ihre Erzählung wieder auf, unterbrochen nur hier und da von Hauptmann Silva, der sie (mit welch wohlerzogenen Manieren, dachte Lituma überrascht) um irgendeine genauere Angabe bat.
Die Entführung hatte vor sieben Tagen stattgefunden, nach einem Chorkonzert der Maristen, das Mabel mit ihrer Freundin Flora Díaz in der Kirche San Francisco besuchte, an der Calle Lima. Sie waren schon länger befreundet, Flora hatte ein Wäschegeschäft an der Calle Junín namens Kreationen Florita, und manchmal gingen sie gemeinsam ins Kino, auf einen Imbiss oder einkaufen. Freitags führte sie der Weg gewöhnlich zur Kirche San Francisco, wo einst die Unabhängigkeit von Piura ausgerufen wurde, denn dort gab es abends immer Musikveranstaltungen, Konzerte, Chöre, Tanz und Aufführungen professioneller Ensembles. An diesem Freitag sang der Chor der Maristen fromme Hymnen, viel auf Latein, oder so klang es zumindest. Da Flora und Mabel sich langweilten, verließen sie das Konzert vor dem Ende. Bei der Hängebrücke verabschiedeten sie sich, und Mabel ging weiter zu Fuß nach Hause, da es ganz in der Nähe war. Sie bemerkte nichts Außergewöhnliches, auch nicht, dass irgendein Fußgänger oder Auto ihr folgte. Gar nichts. Nur Straßenhunde, Scharen tobender Kinder, Leute, die frische Luft schnappten oder sich auf den Stühlen und Schaukelstühlen, die sie vor die Türen ihrer Häuser schoben, unterhielten, Kneipen, Geschäfte und Restaurants, die sich mit Kundschaft füllten, die Musikanlagen mit ihren sich vermischenden Rhythmen auf voller Lautstärke, die ganze Umgebung ein ohrenbetäubender Lärm. (»Stand der Mond am Himmel?«, fragte Hauptmann Silva, und für einen Moment geriet Mabel aus der Fassung: »Der Mond? Entschuldigen Sie, ich weiß nicht mehr.«)
Die Gasse bei ihrem Haus war wie ausgestorben, glaubte sie sich zu erinnern. Die männliche Gestalt, die da halb an den Flamboyant gelehnt stand, bemerkte sie kaum. Sie hielt den Schlüssel in der Hand, und wenn der Kerl einen Versuch gemacht hätte, sich ihr zu nähern, wäre sie alarmiert gewesen, hätte um Hilfe gerufen und wäre davongerannt. Aber er schien sich nicht zu rühren. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und hatte ein wenig Mühe – »Felícito hat Ihnen sicher erzählt, dass es manchmal klemmt« –, als sie merkte, wie ein paar Gestalten sich ihr nährten. Ihr blieb keine Zeit zu reagieren. Sie spürte, wie man ihr eine Decke über den Kopf warf und mehrereArme sie packten, alles gleichzeitig. (»Wie viele Arme?«, »Vier, sechs, keine Ahnung.«) Sie hoben sie hoch, stopften ihr den Mund und erstickten ihre Schreie. Ihr kam es vor, als geschähe alles in einer Sekunde, wie bei einem Erdbeben, und sie war im Zentrum dieses Bebens. Trotz ihrer Panik versuchte sie zu strampeln und um sich zu schlagen, bis man sie in einen Lieferwagen warf, ein Auto oder einen Lastwagen, und die Kerle sie an den Füßen, den Händen und am Kopf festhielten. Da hörte sie diesen Satz, der ihr noch jetzt in den Ohren klang:
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