Ein diskreter Held
O’Donovan ein weiteres Mal, die Resignation war ihm anzusehen. »Was mit dem Jungen passiert, hat keine rationale Erklärung. Wir kennen nicht alles, was in uns ist, Öhrchen. Der Mensch, jeder Einzelne von uns, ist ein Abgrund voller Dunkelheit. Es gibt Männer und Frauen, die eine größere Sensibilität haben als andere, sie nehmen Dinge wahr,spüren sie, die uns anderen nicht auffallen. Könnte es ein reines Produkt seiner Fantasie sein? Ja, vielleicht. Aber es könnte auch etwas anderes sein, das zu benennen ich nicht wagen würde, Rigoberto. Dein Sohn macht diese Erfahrung mit einer solchen Kraft, auf eine so tiefe Weise, dass ich mich weigere, an reine Einbildung zu glauben. Mehr will und werde ich dazu nicht sagen.«
Er schwieg und blickte, mit einem Ausdruck zärtlichster Verwirrung, auf seinen Teller Seebarsch mit Reis. Weder Lucrecia noch Rigoberto hatten einen Bissen angerührt.
»Tut mir leid, dass ich euch nicht gerade nützlich war«, fügte der Priester bekümmert hinzu. »Statt euch aus dem Gewirr herauszuhelfen, habe ich mich selber darin verstrickt.«
Er machte eine lange Pause und schaute sie beide beklommen an.
»Ich übertreibe nicht, wenn ich euch sage, das ich zum ersten Mal in meinem Leben mit etwas konfrontiert bin, worauf ich nicht vorbereitet war«, murmelte er. »Etwas, wofür ich keine rationale Erklärung habe. Wie gesagt, ich schließe nicht aus, dass der Bengel ein außerordentliches Talent zur Verstellung und mir einen dicken Bären aufgebunden hat. Unmöglich ist das nicht. Ich habe viel darüber nachgedacht. Aber nein, das glaube ich nicht. Ich denke, er ist ehrlich.«
»Tja, beruhigend ist es nicht gerade, zu wissen, dass unser Sohn täglichen Umgang mit dem Jenseits pflegt.« Rigoberto zuckte die Achseln. »Dass Fonchito so etwas wie das Hirtenmädchen von Lourdes ist. Das war doch ein Hirtenmädchen, oder?«
»Du wirst lachen, ihr beide werdet lachen«, sagte Pater O’Donovan, der nun mit der Gabel spielte, ohne den Seebarsch jedoch in Angriff zu nehmen. »Aber in diesen Tagen habe ich jede Sekunde an den Jungen gedacht. Von allen Menschen, die ich in meinem Leben kennengelernt habe, und das sind viele, ist Fonchito wahrscheinlich derjenige, der dem, was wir Gläubige ein reines Wesen nennen, am nächsten kommt. Und nicht nur, weil er so gut aussieht.«
»Jetzt kommt der Pfaffe durch, Pepín.« Rigoberto war empört. »Willst du andeuten, mein Sohn könnte ein Engel sein?«
»Ein Engelchen ohne Flügel jedenfalls«, lachte Lucrecia, in aller Fröhlichkeit jetzt und mit maliziös funkelnden Augen.
»Ich sage es gerne noch mal, auch wenn ihr es zum Lachen findet.« Pater O’Donovan musste nun selber lachen. »Ja, Öhrchen, ja, Lucrecia, ihr habt richtig gehört. Auch wenn es euch noch so amüsiert. Ein kleiner Engel, warum nicht.«
XI
Als sie zu dem Häuschen in Castilla kamen, auf der anderen Seite des Flusses, wo Mabel wohnte, schwitzten sie aus allen Poren. Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel herab, an dem nur ein paar Rabengeier ihre Kreise zogen, und nicht das leiseste Lüftchen milderte die Hitze. Den ganzen Weg vom Revier hierher hatte Lituma Fragen gestellt. In welchem Zustand sie die hübsche kleine Dunkle wohl anträfen? Ob diese Scheißkerle die Geliebte von Felícito Yanaqué misshandelt hatten? Begrapscht? Vergewaltigt? Gut möglich, wenn man berücksichtigte, was für ein Prachtstück sie war. Wieso sollten sie die Gelegenheit nicht nutzen, schließlich war sie ihnen Tag und Nacht ausgeliefert.
Felícito selbst öffnete ihnen die Tür. Er war euphorisch, schien erleichtert und glücklich. Das Mürrische, das Lituma in seinem Gesicht immer gesehen hatte, war verflogen, der tragikomische Ausdruck der letzten Tage verschwunden. Jetzt lächelte er über beide Ohren, und seine Augen leuchteten vor Zufriedenheit. Als wäre er wieder jung. Er trug kein Jackett, die Weste war aufgeknöpft. Wie mickrig er war, sagte sich Lituma, die Brust und der Rücken berührten sich fast, und was für ein Knirps, beinahe ein Zwerg. Kaum sah der die beiden Polizisten, tat er etwas Ungewöhnliches für einen Mann, der so wenig dazu neigte, seine Gefühle zu zeigen: Er breitete die Arme aus und drückte Hauptmann Silva an sich.
»Genau wie Sie gesagt haben, Hauptmann.« Er klopfte ihm überschwänglich auf die Schulter. »Die haben sie freigelassen, freigelassen! Sie hatten recht, Herr Kommissar. Mir fehlen die Worte. Ich kann wieder leben, dank Ihnen. Und auch
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