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Ein diskreter Held

Ein diskreter Held

Titel: Ein diskreter Held Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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»Keinen Mucks, wenn du am Leben bleiben willst.« Und sie spürte, wie man ihr mit etwas Kaltem übers Gesicht strich, einem Messer vielleicht, vielleicht auch dem Griff oder dem Lauf eines Revolvers. Der Wagen fuhr los, und bei dem Geschüttel schlug sie immer wieder auf den Boden. Dann zog sie die Schultern ein und blieb stumm liegen, dachte nur: Ich werde sterben. Sie schaffte es nicht mal zu beten. Ohne zu jammern oder sich zu wehren, ließ sie zu, dass man ihr die Augen verband, eine Kapuze überzog und die Hände fesselte. Ihre Gesichter sah sie nicht, das alles geschah im Dunkeln, wahrscheinlich fuhren sie über die Landstraße. Nirgendwo war elektrisches Licht, ringsum nur stockfinstere Nacht. Sicher war es bewölkt gewesen, also kein Mond. Sie fuhren eine ganze Zeit durch die Gegend, es kam ihr vor wie Stunden, Jahrhunderte, obwohl es vielleicht nur ein paar Minuten waren. Mit verbundenem Gesicht, gefesselten Händen und der Angst verlor sie jedes Zeitgefühl. Seither wusste sie nicht mehr, welcher Tag es war, ob Tag oder Nacht, ob Leute sie bewachten oder sie allein in dem Raum lag. Der Boden, auf den man sie gelegt hatte, war sehr hart. Manchmal spürte sie, wie ihr Insekten über die Beine liefen, vielleicht diese grauenvollen Kakerlaken, die sie mehr verabscheute als Spinnen und Mäuse. Sie hatten sie aus dem Lieferwagen gehoben, hingestellt und voranstolpern lassen, hinein in ein Haus, wo ein Radio Musik von der Küste spielte, dann eine Treppe hinunter. Nachdem sie sie auf eine Matte gelegt hatten, verschwanden sie. Dort blieb sie dann, im Dunkeln, zitternd. Erst jetzt konnte sie beten. Und sie betetezur Jungfrau Maria und allen Heiligen, an die sie sich erinnerte, zur heiligen Rosa von Lima und dem Gefangenen Christus von Ayabaca natürlich, und sie flehte sie an, sie zu beschützten. Sie nicht einfach so sterben zu lassen, ihren Qualen ein Ende zu setzen.
    In den sieben Tagen hatte sie nicht ein einziges Mal mit den Entführern gesprochen. Nie holte man sie aus dem Raum heraus. Nie sah sie Licht, da man ihr nie die Binde von den Augen nahm. Es gab einen Behälter oder Eimer, auf dem sie ihre Notdurft verrichten konnte, zweimal am Tag, tastend. Dann nahm ihn jemand mit und brachte ihn sauber zurück, ohne ein Wort. Zweimal am Tag brachte man ihr, dieselbe Person oder jemand anderes, immer schweigend, einen Teller Reis mit Hülsenfrüchten und eine Suppe, eine lauwarme Brause oder eine kleine Flasche Mineralwasser. Damit sie essen konnte, nahmen sie ihr die Kapuze und die Fessel ab, aber nie die Binde von den Augen. Jedes Mal, wenn Mabel sie bat, sie anflehte, ihr zu sagen, was sie mit ihr vorhätten, warum man sie entführt hätte, herrschte die immer selbe kräftige Stimme sie an: »Schnauze! Du riskierest dein Leben, wenn du fragst.« Nie konnte sie sich duschen, nicht einmal waschen. Deshalb ging sie, als sie wieder in Freiheit war, als Erstes unter die Dusche und seifte sich so lange mit dem Schwamm ein, bis die Haut fast abgeschrubbt war. Und als Zweites warf sie die Kleider weg, selbst die Schuhe, die sie die ganzen schrecklichen sieben Tage angehabt hatte. Sie würde alles zu einem Paket schnüren und den armen Geisteskranken im San Juan de Dios schenken.
    Heute Morgen waren sie plötzlich in ihr Gefängnis gekommen, mehrere, den Schritten nach zu urteilen. Immer noch ohne ein Wort hoben sie sie hoch, trieben sie vor sich her, ein paar Stufen hinauf, und legten sie wieder in dasselbe Fahrzeug, in dem man sie entführt hatte. Wieder fuhren sie ewig durch die Gegend, alle ihre Knochen gequetscht von dem Geschüttel, bis der Wagen bremste. Sie lösten ihr die Fessel und befahlen: »Zähl bis hundert, dann kannst du die Binde abnehmen. Wenn du sie vorher abnimmst, hast du eine Kugel im Leib.«Sie gehorchte. Als sie die Binde abnahm, stellte sie fest, dass man sie irgendwo im Nichts abgesetzt hatte, in der Nähe von La Legua. Sie lief mehr als eine Stunde durch den Sand, bis sie die ersten Häuschen von Castilla erreichte. Dort bekam sie ein Taxi, das sie herbrachte.
    Während Mabel von ihrer Odyssee berichtete, lauschte Lituma aufmerksam, ohne dabei jedoch Don Felícito aus den Augen zu lassen und wie rührend er sich seiner Geliebten widmete. Es hatte etwas Kindliches, Pubertäres, Engelhaftes, wie dieser Mann ihr über die Stirn strich, sie mit frommer Hingabe anschaute und murmelte: »Armes Mädchen, armes Mädchen, mein Schatz.« Lituma störten diese Beweise der Zuneigung immer wieder, sie

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