Ein Drama in Livland
einem Winkel des Kamins lehnenden eisernen Schürhaken fiel, ergriff er diesen, besichtigte ihn und erkannte, daß er offenbar gewaltsam verbogen war.
Hatte der Schürhaken beim Aufbrechen des Fensterladens als Hebel gedient? Das erschien recht gut annehmbar, und wenn man diesen Befund mit den verschiedenen Rissen auf der Fensterbank zusammenhielt, so mußte man wohl zu der Schlußfolgerung kommen, die der Richter den anderen Herren gegenüber vertrat, indem er, als sie aus der Schenke herausgetreten waren, sagte, ohne daß Kroff ihn hören konnte:
»Als Urheber des Verbrechens können nur drei Personen in Frage kommen entweder ein von außen eingedrungener Räuber, oder der Schenkwirt selbst, oder endlich der Reisende, der jene Nacht in dem anderen Zimmer geschlafen hat. Der Fund des Schüreisens, das als Beweisstück mitgenommen werden sollte, in Verbindung mit den Spuren am Fenster und an der Außenwand, beseitigten hierüber jeden Zweifel. Der Unbekannte hatte ohne Zweifel gewußt, daß Pochs Mappe eine große Geldsumme enthielt. In der Nacht war er dann nach Öffnung des Fensters seines Zimmers hinausgestiegen und hatte, den Schürhaken als Hebel benützend, den Laden des anderen Zimmers aufgesprengt. Nachdem er dann den schlafenden Bankbeamten ermordet und den Raub ausgeführt hatte, war er in sein Zimmer zurückgekehrt, aus dem er endlich um vier Uhr morgens, den Kopf mit der Kapuze verhüllt, weggegangen ist. Ich glaube bestimmt, in jenem Reisenden den Mörder zu erkennen.«
Gegen diese Darstellung der Sache ließ sich ja nichts einwenden; doch wer war der zweite Reisende, und würde es gelingen, ihn zu überführen?
»Meine Herren, sagte da der Major Verder, der traurige Vorgang hat sich jedenfalls in der Weise abgespielt, wie es der Richter, Herr Kerstorf, eben geschildert hat. Eine weitere Untersuchung bringt aber nicht selten Überraschungen zutage, man darf also keine Vorsichtsmaßregel vernachlässigen. Ich werde das Zimmer des Unbekannten abschließen, den Schlüssel mit mir nehmen und zwei Polizisten als Wache hier lassen. Sie werden Befehl erhalten, die Schenke auf keinen Fall zu verlassen und deren Wirt ständig im Auge zu behalten.«
Diese Maßregel fand allgemeine Billigung und der Major traf demgemäß seine Anordnungen.
Kurz vor dem Wiederbesteigen des Landauers nahm Herr Johausen den Richter beiseite.
»Beiläufig noch etwas, sagte er, worüber ich mich noch gegen niemand geäußert habe, Herr Kerstorf, was ich Ihnen aber doch wohl mitteilen muß…
– Das wäre?…
– Ich besitze ein Verzeichnis der Nummern der gestohlenen Kassenscheine. Es waren hundertfünfzig Stück, jeder zu hundert Rubel 1 , und Poch hatte diese zu einem Bündel zusammengebunden…
– Ah, Sie haben die Nummern aufgeschrieben? antwortete der Beamte nachdenklich.
– Ja, wie das bei uns üblich ist, und ich werde die Nummern den verschiedenen Banken der Ostseeprovinzen und Rußlands mitteilen lassen.
– Ich meine, das sollten Sie lieber nicht tun, antwortete Kerstorf… Unternehmen Sie diesen Schritt, so könnte das dem Räuber zur Kenntnis kommen und er wird sich desto mehr zu hüten wissen. Wahrscheinlich geht er mit dem Gelde ins Ausland und findet dann immer ein Land, wo jene Nummern nicht bekannt geworden sind. Beschränken wir ihn lieber nicht in seinem Tun und Lassen, da verrät er sich vielleicht am ersten.«
Wenige Minuten später trug der Landauer den Richter nebst seinem Aktuar, den Bankier, den Major Verder und den Doktor Hamine davon. Der Kabak »Zum umgebrochenen Kreuze« aber blieb unter der Bewachung der beiden Polizisten, die sich Tag und Nacht nicht davon entfernen durften.
Fußnoten
1 Die russischen Kassenscheine sind alle nur vom Staate ausgegeben, und zwar in Scheinen zu 500, 100, 50, 25, 10, 5 und 3 Rubeln. Dieses Papiergeld bildet fast ausschließlich das im Verkehr Rußlands übliche Zahlungsmittel. Die Staatskassenscheine haben von jeher Zwangskurs. Ihre Ausgabe wird durch eine besondere Verwaltungsabteilung geregelt, die dem Finanzministerium angegliedert ist und unter der Aufsicht des Staatsrates, wie alle Kreditanstalten des Kaiserreichs, steht, der sich für diese Angelegenheiten noch durch zwei Räte aus dem Adelsstande und den Großhändlern Petersburgs verstärkt. Der Papierrubel hatte jener Zeit einen Kurswert von zwei Mark zwanzig Pfennig, der Silberrubel dagegen wurde mit drei Mark zwanzig Pfennig berechnet. Gegenwärtig sind bezüglich des russischen Münzsystems gewisse
Weitere Kostenlose Bücher