Ein dunkler Gesang
dieser Anklage wegen Vergewaltigung. Eine Vergewaltigung, die nie stattgefunden hatte und die Lols Wesen dennoch geprägt hatte: seine Zurückhaltung, seine Ängstlichkeit und seine Scheu, vor Publikum zu spielen, die er erst in jüngster Zeit langsam ablegte.
Wusste Lyndon Pierce davon, oder war das nur ein Schuss ins Blaue gewesen? Oh Gott. Oh Gott! Und Jane war minderjährig.
Lol wirkte überraschend ruhig. Er saß mit seiner Nickelbrille auf der Nase am Tisch und telefonierte. «Ja, danke sehr … Entschuldigung, ich wollte mich nur erkundigen, ob es möglich wäre, mit Mrs. Pole zu sprechen.»
Jane hörte genauer hin.
«Margaret Pole, ja … Oh … Oh,
nein
. Das wusste ich nicht. Das tut mir … Das tut mir wirklich sehr leid.»
Jane verstand nicht, worum es ging.
«Nein», sagte er. «Nur ein Freund der Familie. Ich habe sie vor ein paar Jahren einmal besucht. Jetzt war ich eine Zeitlang, hm, verreist. Es ist nur, dass ich gerade ganz in der Nähe von Hardwicke bin und gedacht habe … Ich habe sogar schon Blumen und Pralinen gekauft … Na ja, kann man nichts machen … Entschuldigen Sie, dass …»
Lol sah konzentriert aus. Jane bekam langsam Panik. Warum wollte er mit einer Frau sprechen, die offenbar tot war? Stimmte bei ihm etwas nicht mehr? Oder bei ihr?
«Es sei denn …», sagte Lol. «Sie hatte doch eine Freundin dort, wie ich mich erinnere. Miss White. Athena White. Ich vermute, dass sie inzwischen auch verstorben ist.»
Lol hörte zu. Als er den Hörer auflegte, wirkte er geradezu euphorisch.
«Sie ist immer noch dort, Jane. Als ich gesagt habe, sie wäre inzwischen vermutlich gestorben, meinte die Frau:
Nein, da muss ich Ihnen leider widersprechen.
»
«Wovon redest du eigentlich?»
«Von Miss White. Athena White lebt immer noch im Wohnstift
The Glades
in der Nähe von Hardwicke.»
«Und?»
«Du hast sie möglicherweise damals nicht kennengelernt. Sag mal, Jane, könntest du etwas für mich tun?»
«Ich tue verdammt noch mal alles für dich, Lol, aber nur, wenn du mir endlich erzählst, worum es geht!»
«Wenn ich Gomer anrufe, gehst du dann zu ihm und bleibst bei ihm, bis Merrily zurück ist?»
«Warum?»
«Weil ich nicht will, dass du jetzt allein bist. Und wenn wir gesehen werden, wie wir zusammen wegfahren … und man würde uns garantiert sehen …»
«Wohin willst du? Das ist nicht witzig, Lol. Wir müssen Mom wegen Pierce vorwarnen.»
«Ich gehe nur einer Sache nach, die mir Gomer erzählt hat. Es dauert nicht lange. Ich versuche etwas über Coleman’s Meadow herauszufinden.»
«Spielt das denn noch eine Rolle?», fragte Jane niedergeschlagen.
Lol zog seine alte Jeansjacke von der Stuhllehne.
«Oh ja», sagte er.
Als Merrily vom
Royal Oak
wegfuhr, wusste sie immer noch nicht recht, was sie von Raji Khan halten sollte. Es konnte sein, dass Bliss ausnahmsweise einmal völlig danebenlag und Khan genau das war, wonach er aussah: arrogant und wichtigtuerisch auf eine Art, die beinahe schon wieder sympathisch war, weil man hinter dieser Fassade seine Jugend und Naivität durchschimmern sah.
Auf dem Weg hinaus hatte er sie durch den
Royal Oak Pub
beziehungsweise das
Inn Ya Face
geführt. Der Umbau hatte tatsächlich eine Art Tempelatmosphäre geschaffen, und die Bühne mit dem Steinsockel war der Altar.
Und alles schien so auf Dauerhaftigkeit ausgelegt, dass sich Preston Devereaux mit seiner Annahme, Raji Khan würde bald wieder verschwinden, wohl irrte.
Würde Khan das alles wirklich aufs Spiel setzen, indem er mit Drogen handelte? Oder hatte er Verbindungen zur Polizei von West-Mercia, die ihm … gewisse Freiheiten einbrachten?
Doch was immer man von Annie Howes menschlichen Qualitäten halten wollte, es war schwer vorstellbar, dass sie sich auf dieses Niveau herablassen würde.
Wenigstens hatte dieses Problem einmal nichts mit spirituellen Grenzfragen zu tun.
Das hier
allerdings …
Noch während sie an der Kirche von Wychehill vorbeifuhr, ging Merrily auf die Bremse, wendete und stellte den Volvo auf dem Parkplatz ab. Bis sie durchs Tor hastete, war er schon in der Kirche verschwunden. Wenn er es gewesen war.
In der Vorhalle blieb sie keuchend stehen und zögerte. Wenn man es mit Exzentrikern, Verrückten oder Phantasten zu tun hatte, kam es nicht darauf an, was man selbst für möglich hielt, sondern darauf, was
sie
für möglich hielten. Und man musste akzeptieren, wenn jemand davon überzeugt war, dass
irgendetwas
passieren könnte.
Es gab
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