Ein dunkler Gesang
zurück.
Sofort.
»
Sie hatte keine Wahl. Sie musste ins Haus zurück. Feststellen, ob Winnie vielleicht noch lebte. Als sie sich umwandte, sah sie am Rand des Rasens etwas aufblitzen.
Ein Messer?
Merrily ging zu der Stelle, während aus dem Hügel unaufhörlich dieser höllische Techno-Chor aufstieg.
Wumm Zischa Zischa Hiss Wumm.
Als sie sich bückte, erkannte sie die Überreste einer Whiskeyflasche, die vermutlich an der Hauswand zerschmettert worden war. Tim Lostes Whiskeyflasche. Zerschlagen auf dem Weg aus dem Haus, nachdem er …
Sie schüttelte das Handy.
Frannie …
Und was war, wenn er nicht anrief? Dann fuhr sie am besten zurück nach Whiteleaved Oak, nachdem … nachdem sie noch mal im Haus gewesen war.
Es war definitiv das
Cello Concerto
. Doch im Gegensatz zu dem subtilen, vollen Klang eines Cellos klang das Pfeifen schwach und fein wie ein Sicherungsdraht und schmerzlich einsam.
Es war, dachte Lol, als ob sich diese Melodie eigentlich so anhören
sollte
, um ihre Bedeutung zu übermitteln.
Und in diesem Fall wäre ihre Bedeutung:
Einsiedlertum.
Der Sternenhimmel war klar und im Norden etwas heller, und das Pfeifen schien langsame, leuchtende Spiralen und einsame Kreise in die Stille zu zeichnen.
Zweimal war es abgebrochen und hatte von einer anderen Stelle aus wieder eingesetzt, so wie sich Käuzchen über ein Tal hinweg etwas zurufen.
Die Eiche wirkte in diesem Licht flach und strukturlos, wie ein riesenhafter, spinnenbeinig ausgelaufener Tintenfleck. Lol ging weiter auf sie zu.
Ein Witz. Aber wer würde in dieser Situation keine Nerven zeigen? Nach dem Dunkelwerden war es schon auf dem Marktplatz von Ledwardine unheimlich genug. Deshalb tat das auch keiner mehr. Kein Mensch schien noch zu pfeifen. Keine Fensterputzer, keine Metzgergesellen. Und garantiert pfiff keiner diese traurige, melancholische …
Als er näher herankam, glaubte Lol, der Pfeifer müsse unter dem Baum sitzen, oder vielleicht in dieser Senke, die aussah wie eine Opfergrube. Doch als er bei der Eiche war, klang das Pfeifen immer noch entfernt.
Dann brach es wieder ab. Lol schob sich bis ganz zu dem Baum und ließ sich zwischen zwei riesigen, knotigen Wurzeln nieder, den Rücken gegen den Stamm, die Beine an die Wurzeln gepresst und die Hände an die Borke geklammert. Er verhielt sich vollkommen still, wurde selbst zum Teil des Baums, bot sich selbst als Opfer an, wenn er dafür Schutz bekam – Schutz gegen den Wahnsinn – als es erneut einsetzte.
Der Mond stand inzwischen höher, und Lol glaubte, weiter rechts eine Bewegung gesehen zu haben. Er rührte sich nicht, und die Melodie erklang wieder.
Als sie dieses Mal endete, schloss Lol für ein paar Sekunden die Augen und versuchte ruhig zu atmen, dann hob er die Hände und begann so langsam und lässig er konnte zu klatschen.
Merrily holte tief Luft, bevor sie die Küche betrat.
Ohne etwas zu berühren, ging sie durch den Flur, und als sie das Licht im Wohnzimmer anschaltete, zog sie vorher ihren Ärmel über die Hand.
Beim ersten Mal war nur das Flurlicht ins Wohnzimmer gefallen. Nun aber strahlten zwei große weiße Wandleuchter hell auf und vertrieben die Schatten. Und es war alles noch viel schlimmer: Blut auf den Büchern, Blut auf den Bildern, Blut auf den Wänden, Blut auf dem Schreibtisch, Flecken und Tropfen und Schmierspuren, und Winnie Sparke so schweigend und still wie das Standbild eines Films.
Winnie trug eines ihrer langen, hauchdünnen Kleider, das jetzt aussah, als sei es aus Blutfäden gewebt. Ihre Arme waren weit ausgebreitet. Der eine lag über dem Bücherregal, der andere im kalten Kamin. Ihre angezogenen Knie wirkten rührend kindlich. Eine Brust war teilweise entblößt und aufgestochen wie eine Saftfrucht. Ihre Gesichtshaut war an mehreren Stellen aufgerissen, Blut und Schleim verbanden Nase und Oberlippe. Ihre Kehle war vielfach mit einem Messer traktiert worden.
Doch das Schlimmste war gar nicht das Blut. Es war die Blicklosigkeit der Augen und der offene Mund, durch den kein Atem mehr ging.
In dem Zimmer war es heiß und feucht, und es stank, und über allem lag eine lähmende, wächserne Stille. Merrily schluckte, und dann überkam sie eine maßlose Wut.
«Du hast ihn aus der Haft geholt … Du hast ihn nach Hause gebracht. Hast Geheimnisse gehabt, dein Spielchen gespielt … Warum hast du nicht mit mir geredet? Warum hast du nicht mit
irgendwem
geredet?»
Sie erstarrte.
Was war, wenn er noch im Haus war? Oben? Was
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