Ein dunkler Gesang
Sie hier wegbringen muss. Sie werden verhaftet. Sie bekommen eine Klage an den Hals. Sie kommen vor Gericht, und wenn man in Ihrem Alter erst einmal vor dem Richter gestanden hat, dann geht’s ziemlich schnell bergab.»
Jane grub die Finger ins Erdreich, öffnete die Augen einen Spaltbreit, sah die Scheinwerfer des Baggers, hörte seinen Motor laufen. Außerdem sah sie die Stiefel von Gerry Murray und hörte erneut die Stimme von Lyndon Pierce.
«Das übersteht Ihre Mutter nicht. Damit sind Sie alle beide weg vom Fenster. Ich wusste schon immer, dass die Entscheidung für weibliche Pfarrer ein Fehler war.»
Jane konzentrierte sich auf das Motorengeräusch.
«Ich habe mit Tessa Bird vom Schulbeirat geredet», sagte Pierce. «Sieht so aus, als wär’s mit Ihrem Schulabschluss sowieso Essig. Sie sind verhaltensgestört, Jane …»
«Was zum Teufel …?»
Jane hörte, wie sich das Motorengeräusch veränderte. Dann wurde krachend der Gang gewechselt. Der Bagger fuhr rückwärts.
Murray schrie: «Kommen Sie da runter, verdammt, Sie Bastard!»
Es war nicht der Wind gewesen. Es war überhaupt nicht windig gewesen. Jemand hatte den jungen Eichenstamm umgebogen, bis er splitternd gebrochen war.
Merrily fühlte die Gewaltsamkeit noch in der Luft, konnte beinahe den Schweiß einer anderen Person riechen. Es war, als wäre die Gewalt der Atmosphäre selbst zugefügt worden, als wollte die Atmosphäre mitteilen, dass sie sich an die Verletzung erinnerte.
Merrily ging auf dem Pfad bis hinters Haus weiter, um nach den Eichensetzlingen in den Blumentöpfen zu sehen. Sie schienen unversehrt, auch wenn einer der Blumentöpfe umgeworfen worden war. Die Hintertür stand einen Spalt weit auf, und der Streifen rötlichen Lichts, der durch den Spalt herausfiel, wirkte in der nächtlichen Dunkelheit beinahe erschreckend.
Merrily schob die Tür ein Stückchen weiter auf und rief: «Mr. Loste?»
Sie rechnete nicht mit einer Antwort. Von hinter dem Hügel jenseits des Hauses drang Musik herüber, ein drängendes Stakkato, als lieferten sich ein paar Leute ein Maschinenpistolenduell. Es war die Tanzmusik aus dem
Royal Oak
, die irgendwie von den Hügeln zurückgeworfen wurde.
Ich verbringe jeden Freitagabend und jeden Samstagabend mit Tim. Wenn der
Royal Oak
aufmacht. Er würde sonst vollkommen durchdrehen
.
Wenn sie nicht hier waren und auch nicht in Whiteleaved Oak, wo waren sie dann?
Mit dem linken Fuß drückte Merrily die Tür noch weiter auf. Vor ihr lag eine Küche, die sie kaum wahrgenommen hatte, als sie mit Annie Howe da gewesen war. Sie sah Kiefernregale, eine Mikrowelle, eine Geschirrspülmaschine und eine Kaffeemaschine. Auf der Arbeitsfläche neben der Mikrowelle lag ein leerer Pizzakarton. Und all das wurde von einem langen, schmalen rötlich gelben Lichtstrahl beleuchtet.
Keine sichtbare Verwüstung, kein Zeichen für einen Einbruch. Wer hatte die Tür offen stehen lassen? War es nur darum gegangen, die Eiche zu zerstören? Wer konnte von ihrer Bedeutung gewusst haben?
Vorsichtig trat Merrily über die Türschwelle.
«Mr. Loste?»
In der Küche war er jedenfalls nicht. Gegenüber stand die Tür zum Flur weit offen. Der Flur lag im Dunkeln. Sie ging weiter und tastete nach dem Lichtschalter. Kaum hatte sie den kleinen Metallschalter umgelegt, ließ das Licht aus einer weißen Kristall-Deckenleuchte die Jenseitsaugen von Edward Elgar aufleuchten, der mit Mr. Phoebus aus den Schatten des Flurs auf sie zukam.
Außerdem warf die Deckenleuchte einen Lichtfächer ins Wohnzimmer, in dem das Glas des gerahmten Fotos von der weißen Eiche eingeschlagen worden war. Das Bild hing schief, als sei ein plötzlicher Windstoß durch den Raum gefahren und habe Winnie Sparkes schlanken Körper unter einem Schauer aus Blut gegen ein Bücherregal geschleudert.
53 Blicklosigkeit
Das Gespräch schien angenommen worden zu sein, doch es war keine Stimme zu hören. Dann wurde das Handydisplay dunkel, und die Musik vom
Inn Ya Face
stampfte mit ihrem
Wumm Zischa Hiss Wumm
wie eine Maschine im Inneren des Hügels.
«Frannie»
, sagte Merrily flehend.
«Frannie.»
Verzweifelt schaute sie zum Himmel hinauf. Sie stand im Garten hinter Tim Lostes Haus Caractacus. Dann wählte sie noch einmal Frannie Bliss’ Nummer.
«Tut mir leid»
, sagte Bliss,
«bin nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.»
«Frannie.
Bitte.
» Merrilys Stimme klang panisch. «Rufen Sie mich zurück. Rufen Sie mich
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