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Ein dunkler Gesang

Ein dunkler Gesang

Titel: Ein dunkler Gesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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war, wenn er auf der Treppe stand und lauschte?
    Unwahrscheinlich. Total unwahrscheinlich. Er war längst weg. Er war mit seinem Whiskey aus dem Haus getaumelt, hatte die Flasche geleert und sie an der Wand zerschmettert, in seiner Qual und seinem Selbsthass, und dann war er in die Hügel gelaufen.
    Warum?
    «Verdammt, warum zum Teufel hat er dir das angetan, Winnie? Seiner Retterin, seiner Unterstützerin, seinem …»
    Es konnte keine auch nur halbwegs rationale Erklärung dafür geben. Das war etwas ganz anderes als die Beseitigung des Dealers auf dem Beacon. Das zeugte von totaler Entfesselung. Der Mörder hatte ihr bei der Tat in die Augen gesehen. Das war der
nackte Wahnsinn
.
    Merrily betrachtete Winnie Sparkes letzten, erstarrten Schrei. Sah nur ein Auge durch all das Blut und das Haar. Winnies schönes, volles Haar. Und das Auge war ein totes Auge. Es hatte in Blut geschwommen, und nun war das Blut um das Auge geronnen wie ein steifer Kragen.
    «Warum konntest du nicht darüber reden?»
    Sie schluchzte, bevor sie das Einzige tat, was es noch zu tun gab.
    Beten.
    Das war ihr Job.
    «Nimm sie zu dir und tröste sie. Bring sie weg von diesem Ort. Nimm sie auf in dein Licht.»
    Dann betete sie das Vaterunser, den ältesten Exorzismus.
«… denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit. Amen.»
    Sie bezwang das Grauen und öffnete die Augen wieder.
    Und einen Augenblick lang konnte sie sich zusammennehmen und ruhig bleiben, als sie die neue Anwesenheit im Raum wahrnahm.
    Winnie Sparke lag immer noch genauso tot da wie zuvor. Es war nicht Winnie Sparke, die atmete und die hinter Merrily an der Tür leise «Amen» sagte.

54 Die Verbindung unterbrechen
    «Das hätten Sie nicht tun sollen», sagte er streng. «Sie haben die Schwingung unterbrochen.»
    Er überragte Lol ein gutes Stück und nickte, als sei ihm der Kopf zu schwer. Er trug eine ausgebeulte graue Jogginghose und ein weißes Unterhemd mit dunklen Flecken und Spritzern darauf.
    «Perkussionsgeräusche …», er klatschte ungeschickt, und manchmal verfehlten sich seine Hände, «… unterbrechen die Verbindung. Jetzt ist sie weg.»
    Er schlurfte leicht gebeugt zu einem halbzerfallenen Heuballen und ließ sich mit gespreizten Beinen darauf fallen. Sein Oberkörper schaukelte leicht vor und zurück.
    «Setzen Sie sich, alter Freund.»
    Lol suchte sich einen anderen Heuballen. Auf dem Boden zwischen ihnen stand eine Lampe, eine von diesen batteriebetriebenen Laternen mit einem blauen Plastikschirm, die wässrig blaues Licht durch den langgezogenen Schuppen warf, der entweder eine offene Scheune oder ein Pferdeunterstand war.
    Was immer es war, es stand ganz in der Nähe der Eiche, und es war herausgetappt, nachdem Lol zu klatschen begonnen hatte. So, wie er hinter seiner Laterne schwankte, sah er aus wie der leicht betäubte Überlebende eines eisenzeitlichen Stammeskrieges. Lol hatte ihn nach Merrilys Beschreibung sofort erkannt.
    «Hab aber eigentlich sowieso nicht gearbeitet. Bin außer Atem gekommen. Man muss das ganze Stück durchhalten. Bis man …»
    Er unterbrach sich und blinzelte. Er rutschte auf seinem Heuballen zurück.
    «Ich weiß wirklich nicht, was … heute Nacht mit mir los ist.»
    Was offensichtlich mit ihm los war, konnte man an seinem ekelhaft süßsauren Atem feststellen. Man sollte im Kopf behalten, dass dieser Mann nur aus Mangel an Beweisen aus der Haft gekommen war.
    Sein breiter, struppiger Schnurrbart hing zu beiden Seiten seines Mundes herunter. Er erinnerte mehr an einen mongolischen Kriegsfürst als an einen viktorianischen Komponisten.
    «Finden Sie, ich sehe okay aus?»
    «Ja, ich glaube schon», sagte Lol.
    Tim Loste musterte ihn nun genau aus rot unterlaufenen Augen, mühte sich um Konzentration.
    «Ich komme nicht drauf … von wo sind Sie noch mal?»
    «Ich? Led …», Lol änderte kurzfristig seine Meinung. «Knights Frome.» Er hielt inne. «Ich bin ein Bekannter von Dan.»
    «Dan?»
    «Dan aus Much Cowarne?»
    «
Dan!
Ja, natürlich.» Tim wollte sich aufs Knie schlagen, verfehlte es aber, kippte seitwärts und trat dabei die Laterne um. Lol stellte sie wieder auf. Tim rappelte sich hoch. «Guter Typ. Hat einfach … mitgemacht. Wollte nicht alles … erklärt haben.»
    «Der beste Tenor in Much Cowarne», sagte Lol.
    «Absolut. Wo auch immer Much Cowarne ist.»
    Sie lachten beide. Lol schaute aus der offenen Scheune auf die mondbeschienene Landschaft hinaus. Es war wie auf einer

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