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Ein dunkler Gesang

Ein dunkler Gesang

Titel: Ein dunkler Gesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phil Rickman
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gerettet. Sie haben Winnie Ihren Schutzengel genannt.»
    «Sie hat gesagt, durch den Einsatz von Symbolik in diesem Leben könnte die Reise vollendet werden. Und nebenbei entstünde große Kunst.»
    «Und wie soll es heißen?»
    Tim wirkte einen Moment lang ratlos. Die weißen Wolken lagen wie Kissen auf der unebenen Matratze der Hügel.
    «Mr. Phoebus»
, sagte er schließlich.
«Mr. Phoebus und die Weiße Eiche.»
    «Das gefällt mir. Ein sehr schöner Titel.»
    «Winnie schreibt auch ein Buch. Über mich und Elgar.»
    «In einer Biographie über Elgar steht, Elgar hätte den
Gerontius
in einer Art Trance geschrieben», sagte Lol.
    «Ja. Als Elgar
G
komponierte, hat er von Birchwood aus seine Seele aufsteigen sehen, so hat er es selbst beschrieben. Es war eine ungeheure emotionale Erfahrung. Er war beinahe in Ekstase, als er das Stück fertig hatte. Aber dann …» Tim ließ den Kopf hängen.
    «Dann ist alles schiefgelaufen.»
    «Die erste Aufführung in Birmingham war eine Riesenkatastrophe. Der Chor hatte nicht richtig geübt und hat schlecht gesungen. Der Chorleiter war überraschend gestorben, und der Ersatzmann war der Aufgabe nicht gewachsen. Elgar stand kurz vorm Selbstmord.»
    «Hat er wirklich versucht, sich umzubringen?»
    «Er hatte eine sehr schwere Depression.
Ich wünschte, ich wäre tot
, hat er immer wieder gesagt. Und geschrieben hat er:
Ich habe immer gesagt, dass Gott gegen die Kunst ist.
Er hat geschworen, niemals mehr geistliche Musik zu schreiben. Später wurde
G
natürlich sehr erfolgreich aufgeführt, aber am Anfang …»
    «Hat Elgar denn geglaubt, das Stück wäre verflucht?»
    «Ja, er glaubte, Gott würde ihn dafür bestrafen, dass er versucht hatte, sich über sein … Menschsein zu erheben. Dass er versucht hatte … gottgleich zu werden, nehme ich an.»
    «Sie meinen durch seine Musik.»
    «Nachdem die Seele den Versuchungen der Dämonen widerstanden hat, nach seiner Begegnung mit dem Engel der Qualen, als er sich dem Richterstuhl nähert, wird ihm unvermittelt ein kurzer, alles verändernder Blick auf … das Heiligste gewährt.»
    «Gott.»
    «Ein flüchtiger Blick auf Gott, ja.»
    «Und das wollte Elgar musikalisch darstellen.»
    «Er konnte es nicht», sagte Tim. «Oder er wollte es nicht. Hat sich gescheut. Als Katholik glaubte er, das könnte blasphemisch sein. Aber August Jaeger, sein Freund und Vertrauter im Verlagshaus, hat ihn gedrängt, es trotzdem zu versuchen.»
    Tims Gesicht glänzte vor Schweiß.
    «Und das, verstehen Sie, ist in meinem eigenen Stück Elgars quälendstes Solo. Wir haben beschlossen, Winnie und ich, dass es Elemente böser Vorahnungen enthalten sollte … vielleicht als Andeutung auf die katastrophale erste Aufführung in Birmingham.»
    «Netter Einfall», sagte Lol.
    «Jaeger hat Elgar immer weiter angestachelt, er wusste genau, wie er ihn herumbekommen konnte. Er hat solche Sachen gesagt wie:
Natürlich, um Gott in all seiner Herrlichkeit darzustellen, bräuchte man schon einen Wagner …
»
    Lol nickte. Wagner war Elgars größtes musikalisches Vorbild gewesen.
    «Also hat Elgar es noch einmal versucht?»
    «Ja, klar. Er ist zurückgekommen.»
    «Hierher. Nach Whiteleaved Oak?»
    «Wohin sonst?»
    «Und … was ist passiert?»
    «Einfach ausgedrückt, könnte man vielleicht sagen, er hat einfach ein paar Akkorde neu arrangiert, um einen musikalischen Höhepunkt herzustellen, und dann … Kennen Sie
G

    «Mehr oder weniger.»
    An dieser Stelle des
Gerontius
warnte der Schutzengel die Seele davor, dass sie von der mächtigen Wirkung des kurzen Anblicks vernichtet würde. Die Stelle, an der es dann passierte, war kaum orchestriert. Es war ein einzelner Akkord, der einem direkt ins Rückenmark fuhr, wie ein blitzendes, rasiermesserscharfes Sensenblatt.
    «Verstehen Sie, was mir hier gelingen muss … Ich muss den Moment einfangen, in dem Elgar die Inspiration hatte. Sonst wird
Mr. Phoebus
scheitern.»
    «Sind Sie deshalb hier?»
    «Ich muss den Moment einfangen und noch viel mehr.»
    «Mehr?»
    «Es bringt nichts, Elgar einfach nur zu
kopieren
. Man muss es weiterentwickeln, was würde es sonst nützen?»
    «Weiter entwickeln als Elgar?»
    «Winnie glaubt, Elgar muss etwas erlebt oder ‹gesehen› haben, was für ihn derartig tiefgehend und erschreckend war, dass er diese Erfahrung trotz allem nicht voll zu orchestrieren wagte. Die Steigerung hin zu dem einen, furchterregenden, aufrüttelnden,
schlitzenden
Akkord hat zwar ausgereicht, um

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