Ein dunkler Ort
Schattens. Wir leben jetzt schon seit Wochen darin und wir passen uns an. Deshalb wollte ich heute Nacht rausgehen, etwas Abstand nehmen von Blackwood, um es ansehen zu können und den Unterschied zu spüren.«
»Es fühlt sich anders an hier draußen«, räumte Kit ein. Hier im Mondschein konnte sie Blackwood anschauen, das große Gebäude mit dem spitzen Dach, das vor der blasseren Dunkelheit des Nachthimmels aufragte wie eine Illustration aus einem Bilderbuch. Lyndas Zimmer im zweiten Stock war dunkel. Bei Ruth war Licht, sie hatte offenbar schon mit dem abendlichen Lernen begonnen. Sandys Eckzimmer lag auf der anderen Seite des Flurs, es war von hier nicht zu sehen. Und ihr eigenes Zimmer …
»Da brennt Licht«, sagte sie.
»Was?«
»In meinem Zimmer ist das Licht an. Da … das Fenster dort … das ist doch mein Zimmer, oder?«
»Klar«, sagte Sandy. »Vielleicht hast du es angelassen, als du zum Essen runtergegangen bist.«
»Hab ich nicht«, sagte Kit. »Ich erinnere mich, dass ich das Licht ausgemacht habe. Dann hab ich die Tür abgeschlossen.« Sie erstarrte, ihr Blick klebte an dem leuchtenden Fenster, an dem ein dunkler Schatten vorbeizog.
»Da ist jemand drinnen!«, rief sie. »Jemand ist in meinem Zimmer!«
»Das ist unmöglich, wenn du die Tür abgeschlossen hast.« Sandy starrte das Fenster auch an. »Vielleicht weht nur die Gardine im Wind.«
»Tut sie nicht. Das ist ein Mensch!« Kit wirbelte herum und rannte den Pfad hoch. »Komm, den schnappen wir uns! Er muss den Flur entlang kommen, anders geht es nicht. Wenn wir rechtzeitig an der Treppe sind, können wir ihm den Weg abschneiden!«
Aber es war niemand auf der Treppe, und es war auch niemand auf dem langen, schwarzen Flur. Die Tür von Kits Zimmer war immer noch verschlossen. Als sie den Schlüssel im Schloss umdrehte und sie öffnete, lag das Zimmer im Dunkeln. Kit schaltete das Licht an, und sie musste nicht mal hinschauen, sie wusste auch so, was sie vorfinden würde. Die Bleistiftzeichnung lag nicht mehr auf ihrem Schreibtisch. Sie war verschwunden.
In dieser Nacht war ihr Traum anders. Es war ein seltsamer Traum und er war auf merkwürdige Weise schön. Darin war sie im Musikzimmer, am Klavier, und ihre Finger waren auf den Tasten zu Hause. Vor ihr lag kein Notenblatt, aber sie spielte auf eine Art, auf die sie nie zuvor gespielt hatte. Es war eine wunderschöne Melodie, so kühl und bezaubernd wie der Mondschein, so leuchtend wie der silberne Pfad im Garten.
Wie ist das schön , sagte sie sich im Traum, ich darf es nicht vergessen, damit ich es noch mal spielen kann. Aber das Stück hatte keinen Namen und sie wusste, sie hatte es noch nie zuvor gehört.
Als sie morgens aufwachte, war sie so erschöpft, als hätte sie kein Auge zugetan, und die Finger taten ihr weh.
ACHT
Die Post lag auf einem Tisch in der Eingangshalle. Kit, die vom Unterricht bei Professor Farley kam, nahm das, was an sie adressiert war, zum Lesen mit nach oben in ihr Zimmer.
Zwei Postkarten von ihrer Mutter waren gekommen, eine aus Cherbourg und eine aus Paris, beide waren per Luftpost geschickt worden, aber zwischen den Sendedaten lag eine Woche.
»… so aufregend«, stand in der ersten. »… eine herrliche Überfahrt … so viele interessante Leute an Bord … wir haben Schlaf nachgeholt und auf Liegestühlen an Deck gefaulenzt.« Auf der zweiten Karte war etwas über den Eiffelturm, Montmatre und die Folies Bergère zu lesen.
»Wo bleiben deine Briefe, Schatz?«, stand in einem eiligen PS. »Wir haben deine Nachricht in Cherbourg erhalten, seitdem aber kein Wort mehr gehört. Du kennst unseren Reiseplan. Schreib zu Händen von American Express, aber kalkuliere genug Zeit ein.«
Außer den Postkarten hatte sie noch einen Brief von Tracy bekommen. Als sie die ordentliche, runde Handschrift sah, die ihr beinahe so vertraut war wie Tracy selbst, überkam sie ein akuter Anfall von Heimweh.
»Das muss ja toll sein da«, schrieb Tracy, »wenn du es nicht mal schaffst zu schreiben. Was ist aus diesem Versprechen geworden, mich ständig auf dem Laufenden zu halten? Hier ist alles wie immer. Ich hab Mrs Logan in Englisch, jippieh!, und Mr Garfield in Latein … kotz! Kunst II ist total toll, wir können machen, was wir wollen. In meinem Geometriekurs ist ein süßer Typ namens Kevin Webster. Wie kommst du in Blackwood zurecht, ohne einen einzigen Mann unter achtzig?«
Aber Jules ist doch da , dachte Kit. In meinem allerersten Brief habe ich ihr von Jules
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