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Ein dunkler Ort

Ein dunkler Ort

Titel: Ein dunkler Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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es zu lesen, was drin stand. Wenn meine Lehrer mir Fragen stellten, wusste ich die Antworten, auch wenn ich mich mit dem Stoff gar nicht beschäftigt hatte. Ich konnte die Antworten in ihren Köpfen fühlen. Und dann hab ich ihnen genau das erzählt, was sie hören wollten.«
    »Und Lynda?« Kit fühlte sich zittrig. »Hat Lynda diese Fähigkeit auch?«
    »Nicht in dieser Form«, sagte Ruth. »Bei Lynda ist das etwas anderes. Lynda erinnert sich.«
    »Wie? An was erinnert sie sich?«
    »Das klingt jetzt verrückt«, sagte Ruth. »Jedenfalls fand ich das, als sie mir das erste Mal davon erzählt hat. Aber jetzt … nachdem ich sie so gut kenne … da glaube ich fast, dass es wahr ist. Wenigstens glaube ich, dass Lynda es für wahr hält.«
    »Und?«
    Ruth schaute auf ihre Hände, die immer noch ineinander verschlungen auf ihrem Schoß lagen.
    »Lynda«, sagte sie, »erinnert sich an ein anderes Leben, in dem sie in England geboren wurde und unter Königin Victoria lebte.«
    »Oh mein Gott!«, krächzte Kit. Eine ganze Weile herrschte Schweigen, während sie versuchte, diese Information zu verarbeiten. Dann schüttelte sie den Kopf. »Du hast recht, das ist verrückt. Aber es ist auch nicht verrückter als diese Nacht, in der ich aufgewacht bin und meinen Vater an meinem Bett stehen sah. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass er in der Nacht zuvor bei einem Unfall ums Leben gekommen war.«
    »Aha«, sagte Ruth leise. »Du also auch.« Sie holte tief Luft. »Ich glaube, ich weiß jetzt endlich, was wir vier gemeinsam haben, und warum wir unter allen Bewerbern als erste Schülerinnen von Blackwood ausgewählt worden sind.«
    Ihr erster Gedanke war, dass sie vielleicht schon wieder träumte. Aber natürlich wusste sie, dass es nicht so war. Es war mitten am Nachmittag und sie war auf dem Weg zur Literaturstunde mit Madame Duret. Und trotzdem, die Musik …
    Sie drang durch die geschlossene Tür des Musikzimmers. Seltsam, wunderschön und geradezu schmerzlich vertraut erfasste diese Melodie sie und Kit reagierte darauf wie nie zuvor auf Musik. Sie legte die Hand auf den Türknauf und öffnete die Tür. Jules saß mit dem Rücken zu ihr da, die Musik kam aus den Lautsprechern des Aufnahmegeräts.
    »Was spielst du da?«, fragte Kit. Als er nicht antwortete, merkte sie, dass er sich so sehr auf die Musik konzentrierte, dass er sie nicht gehört hatte. Sie fragte noch ein Mal lauter: »Jules, was ist das für eine Musik?« Jules zuckte zusammen und drückte schnell einen Knopf. Die Klänge verstummten. Mit einem unfassbar wütenden Gesicht drehte er sich um.
    »Wie kommst du dazu, mich zu stören …«, fing er an. Und dann, als er Kits erstauntes Gesicht sah, schaffte er es, sich zusammenzureißen. Seine Stimme wurde weicher. »Oh, du bist das.«
    »Du hättest das nicht ausmachen müssen«, sagte Kit. »Ich hab die Musik durch die Tür gehört. Sie ist schön. Ich wollte unbedingt wissen, was das ist.«
    »Ich glaube nicht, dass das Stück einen Titel hat«, sagte Jules.
    »Das kann nicht sein. Alles, was veröffentlicht wird, hat einen Titel.«
    »Ja, stimmt schon. Ich meinte nur, ich kenne den Titel nicht.«
    »Steht das denn nicht auf der CD?«
    »Es ist keine kommerzielle Aufnahme«, sagte Jules. »Nur eine Sammlung von allem möglichen, das ich mal hier, mal da abgefischt habe, weil es mir gefiel.«
    »Mir gefällt es auch«, sagte Kit. »Besonders dieses letzte Stück. Könntest du das noch mal spielen?«
    »Du hast den größten Teil gehört.« Jules machte keine Anstalten, das Gerät wieder einzuschalten. Kit musterte ihn verwundert. Noch nie hatte sie erlebt, dass Jules Duret die Selbstbeherrschung verlor. Jetzt wirkte er wie völlig aus der Bahn geworfen, als ob er überhaupt nicht wüsste, wie er mit der Situation umgehen sollte.
    Er wich ihrem Blick aus und wirkte irgendwie schuldbewusst. Aber was hatte er denn gemacht? Kit war ratlos. Sie wusste, dass sie eigentlich in den Unterricht gehen sollte. Sie war schon spät dran und Madame konnte Verspätungen nicht leiden. Trotzdem blieb sie wie angewurzelt in der Tür stehen und beobachtete die Gefühlsregungen, die sich auf Jules schönem Gesicht zeigten.
    »Du kennst dieses Lied doch«, sagte sie unbeirrt. »Du hast Musik studiert. Wenn dir der Titel nicht mehr einfällt, wirst du doch wenigstens wissen, wer das Stück geschrieben hat. Wer war der Komponist?«
    »Da bin ich mir nicht sicher«, sagte Jules. »Es klingt wie … na, ich vermute, es ist was von

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