Ein dunkler Ort
mehr so schlimm dort.«
»Warum bist du nach Blackwood gekommen?«, fragte Kit.
»Das haben meine Eltern eingefädelt. Sie fanden, dass ich in der Schule in L. A. nicht genug gefordert war, und sie hatten recht. Als sie in der Broschüre über Blackwood was von Einzelunterricht gelesen haben, bei dem jeder Schüler nach seinen Begabungen gefördert wird, waren sie ziemlich begeistert. Wir haben in den Frühlingsferien drüber gesprochen, und Mom hat Madame Duret geschrieben und vereinbart, dass ich die Aufnahmeprüfung mache. Dann hat Lynda das mitgekriegt und ihre Mutter überredet, sie ebenfalls den Test machen zu lassen. Sie wollte nicht allein zurückbleiben.«
»Und sie ist angenommen worden?«, fragte Kit. »Ist das nicht erstaunlich?«
»Ich konnte es nicht glauben«, sagte Ruth. »Ich dachte, vielleicht hatten sie die Ergebnisse verwechselt. Aber Lynda gefällt es hier. Alle sind nett zu ihr. Und jetzt hält sie sich plötzlich für eine Künstlerin und das findet sie unheimlich aufregend. Madame Duret hat ihr eine Staffelei gegeben und Ölfarben und Leinwand. Du solltest Lyndas Zimmer mal sehen! Da sieht es aus wie in einem professionellen Atelier.«
»Aber wie konnte sie das Bild von mir zeichnen, wenn sie keine künstlerische Begabung hat?«, fragte Kit. »Du nennst es ›einen Ausrutscher‹, aber das ist keine Erklärung. Wie kann jemand so etwas Gekonntes hinkriegen, wenn das Beste, was sie davor zustande bekommen hat, das hier ist?« Sie zeigte auf die grässliche Skizze.
»Das ist ja das Verrückte«, sagte Ruth. »Vielleicht ist dieses Bild von dir gar nicht so gut, wie wir zuerst dachten. Hol es mal her, damit wir es uns noch mal ansehen können.«
»Geht nicht«, sagte Kit. »Ich habe es nicht mehr.«
»Wie das?«
»Jemand hat es weggenommen«, sagte Kit. »Die Tür war abgeschlossen, aber trotzdem ist jemand reingekommen und hat das Bild von meinem Schreibtisch genommen.«
»Weißt du, wer es war?«
»Keine Ahnung. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wer Interesse an dem Bild gehabt haben könnte. Wir haben alle einen Schlüssel zu unserem Zimmer, aber ich bin mir sicher, dass Madame Zweitschlüssel besitzt. Und die kann wohl jeder benutzen, der weiß, wo sie sie aufbewahrt.«
»Sie könnte die Zeichnung also auch selbst genommen haben«, meinte Ruth.
»Warum sollte sie so was tun? Ein Bild von mir kann ihr doch nicht so viel bedeuten. Abgesehen davon, soviel ich weiß, wusste sie nicht mal von der Zeichnung. Sie war nicht im Salon, als Lynda uns das Bild gezeigt hat. Außer uns Mädchen war keiner da.«
»Professor Farley ist reingekommen«, erinnerte Ruth sie. »Er hat das Bild gesehen.«
»Stimmt, das hat er. Aber warum sollte er es haben wollen? Je mehr wir darüber reden, desto lächerlicher kommt mir die ganze Sache vor. Lynda, die nicht zeichnen kann, gelingt ein wunderbares Bild. Es gibt keinen Grund, warum außer mir irgendjemand daran Interesse haben sollte. Trotzdem geht jemand in ein abgeschlossenes Zimmer und stiehlt es. Leg das noch drauf auf Sandys Albtraum von der Frau an ihrem Bett …«
»Ein Albtraum?«
»Jules meint, es war einer. Sandy ist sich da nicht so sicher. Sie hatte nämlich schon vorher ähnliche Erlebnisse. Besonders, gleich nach dem Tod ihrer Eltern. Sie sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, und Sandy wusste schon vor der offiziellen Benachrichtigung davon. Sie sagt, sie wusste einfach so aus heiterem Himmel mit absoluter Gewissheit, dass das Flugzeug abgestürzt war und ihre Eltern nicht überlebt hatten.«
»Dann hat sie es also auch.« Ruth sprach leise und sie klang überhaupt nicht überrascht.
»Was soll sie haben?«
»ASW.« Ruth hielt inne, und dann, als sie Kits Gesicht sah, erläuterte sie: »Außersinnliche Wahrnehmung. Das ist eine Art sechster Sinn, der bei manchen Menschen angeboren ist. Es ist eine besondere Sensibilität für Dinge, die man normalerweise nicht sieht oder hört.«
»Und du meinst, Sandy hat das?«, fragte Kit. »Aber du hast gesagt: Sie hat es auch. Willst du damit sagen, dass du …«
»Ich hab das, solange ich denken kann«, sagte Ruth. »Eine Zeit lang war mir nicht klar, was es war. Ich dachte, es läge vielleicht daran, dass ich besonders klug war und deshalb Dinge wahrnehmen konnte, die andere Menschen nicht registrierten. Es trug auch dazu bei, dass ich in der Schule so schnell vorankam. Ich konnte mir ein Buch ansehen und manchmal musste ich es nicht mal aufschlagen, ich wusste auch so, ohne
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