Ein dunkler Ort
das Licht an.«
»Nein, lass nur«, sagte Sandy. »Ich wollte dir was erzählen. Die Frau … die heißt Ellis.«
»Die Frau in deinem Traum? Du hast ihr einen Namen gegeben?«
»Kit, das war kein Traum«, Sandy klang sicher. »Es ist was anderes, mehr als ein Traum. Das ist kein Hirngespinst. Ellis gibt es wirklich. Sie ist ein echter Mensch. Da bin ich mir sicher.«
»Das ist unmöglich«, sagte Kit. Sie streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus.
»Nein, lass das«, sagte Sandy, die spürte, was sie tat. »Bitte, tu’s nicht. So lange es dunkel ist, kann ich sie sehen, wie ein Bild auf der Leinwand meiner Vorstellung. Sie ist jung, jünger noch als ich anfangs dachte, und sie hat die schönsten Augen, verträumt und sorgenvoll, als ob sie viel gelitten hätte.«
»Beim ersten Mal hattest du Angst vor ihr«, sagte Kit. »Du hast geschrien.«
»Jetzt nicht. Ich hab keine Angst mehr. Das wollte ich dir nur sagen.« Sandys Schritte streiften den Boden. »Gute Nacht, Kit.«
Die Tür ging auf und wieder zu. Kit schauderte und zog die Decke über ihre Schultern.
ZEHN
Die Gelegenheit, mit Natalie zu reden, ergab sich nicht sofort. Erst einige Tage später, abends nach dem Essen, sah Kit ihre Chance.
Die Mahlzeit war in gedrückter Stimmung eingenommen worden, ohne die üblichen Gespräche. Jules hatte früh zu Abend gegessen und war dann in die Stadt gefahren. Professor Farley war nicht zu Tisch gekommen, weil er gerade etwas schrieb und nicht gestört werden wollte.
»So ist das mit Professoren«, hatte Madame Duret leichthin erklärt. »Sie müssen ständig etwas veröffentlichen. Vielleicht wird der Tag kommen, wenn eins von euch Mädchen auf die gleiche Weise beschäftigt ist.«
Lynda saß auch nicht am Tisch. Sie hatte durch Ruth mitteilen lassen, dass sie sich nicht wohlfühlte, und Madame hatte gesagt, sie würde ihr ein Tablett aufs Zimmer bringen lassen.
»Ich kann das machen«, bot Kit an, als sie nach dem Essen aufstanden.
»Das ist nett von dir, Kathryn«, sagte Madame. Sie zögerte, als wollte sie noch etwas sagen, entschied sich dann aber offensichtlich dagegen.
Als Kit die Treppe hochging, wurde ihr bewusst, dass sie Lyndas Zimmer seit Wochen nicht betreten hatte. Beim letzten Mal war sie beeindruckt gewesen, wie ausgesprochen feminin der Raum wirkte. Auf dem Sekretär hatten die Schminksachen dicht an dicht gestanden, in einer Vase auf dem Schreibtisch blühten künstliche Rosen und im Spiegelrahmen steckten rundherum Fotos, alle von Lynda, die scheu zu den unterschiedlichsten Bewunderern empor lächelte. Die Liebesromane, die Lynda so gern las, waren auf dem Nachttisch aufgereiht, gehalten von kunstvoll geschnitzten vergoldeten Buchstützen, und ein Kissen in Form eines rosa Kätzchens hatte auf dem Bett gelegen.
Doch als Kit jetzt eintrat, stellte sie erschrocken fest, dass der Raum eher dem Atelier eines Malers glich, ganz wie Ruth es beschrieben hatte. Am nach Osten gewandten Fenster stand eine Staffelei, auf die das Morgenlicht fallen würde. Das Bild auf der Leinwand darauf war noch nicht fertig. Es war eine Waldlandschaft in gedämpften Farben, in der die schlanke Gestalt eines Mädchens an einem sich dahin schlängelnden Bach kniete. Bäume neigten sich über sie und der Bach spiegelte das lachende Gesicht einer Waldnymphe unter dem grünen Blätterdach.
Andere Bilder, in unterschiedlichsten Stadien der Vollendung, lehnten an den Wänden oder stapelten sich in der Ecke. Es war kaum zu glauben, dass Lynda sie alle in so kurzer Zeit geschaffen haben sollte.
»Hi«, sagte Kit. »Ich hab dir Abendessen gebracht. Madame meinte, du fühlst dich nicht wohl.«
Lynda hatte sich auf dem Bett ausgestreckt. Sie trug ihre normalen Sachen, aber kein Make-up und ihr Haar lag so fettig und ungepflegt auf dem Kissen, als hätte sie sich schon lange nicht mehr die Mühe gemacht, es zu waschen.
Sie warf einen Blick auf das Tablett und rümpfte die Nase. »Danke, aber ich will wirklich nichts. Ich bin überhaupt nicht hungrig.«
»Du musst was essen«, sagte Kit. »Du magerst immer mehr ab.« Das stimmte. Lyndas Augen wirkten riesig in ihrem hübschen Gesicht, und die Wangenknochen traten scharf unter der sonst so makellosen Haut hervor, die jetzt jedoch einen gelblichen Stich hatte.
»Ich hab gesagt, ich bin nicht hungrig«, quengelte Lynda. »Ich bin einfach nur müde. Ich hab so viel gearbeitet.«
»Das würde ich auch sagen, so wie’s hier aussieht.« Kit wies mit einer Kopfbewegung
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