Ein dunkler Ort
Hörer lag auf dem Tisch. Madame reichte ihn Kit.
»Wenn du kein Glückspilz bist! Ein Anruf aus Italien. Grüß deine Mutter von mir.«
Kit schnappte sich den Hörer. Mit zitternder Hand führte sie ihn zum Ohr.
»Hallo, Mom?«
»Oh, Schatz!« Die dünne Stimme ihrer Mutter schien ihr Millionen Meilen weit weg zu sein, aber sie spürte die vertraute Wärme und die Liebe – und zum zweiten Mal an diesem Abend stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Es ist so wunderbar, dich zu hören.«
»Finde ich auch«, sagte Kit. »Wie geht es dir? Und Dan? Von wo rufst du an? Amüsiert ihr euch?«
»Es ist so toll«, sagte ihre Mutter. »Du kannst es dir nicht vorstellen. Wir sind jetzt in Florenz und morgen fahren wir weiter nach Rom. Denk dir nur, wir werden tatsächlich den Vatikan besichtigen und das Forum und die Katakomben, alle Orte, über die du schon so viel gelesen hast!«
Sie klingt so jugendlich , dachte Kit erstaunt. Ihre Mutter mit den silbernen Strähnen im Haar, den Fältchen um die Augen und dem Rücken, der ihr nach einem Tag am Computer wehtat, klang wie ein junges Mädchen, das vor Begeisterung und Vitalität sprudelte.
»Und du, Schatz? Wie geht es dir? Bist du gern in Blackwood?«
»Mom!« Die Frage verblüffte Kit. »Hast du denn meine Briefe nicht gelesen?«
»In Cherbourg haben wir einen bekommen«, sagte ihre Mutter, »aber das war gleich nach unserer Ankunft dort. Das ist der einzige Brief, den wir gekriegt haben und dein Handy funktioniert anscheinend nicht. Deshalb rufe ich an. Dan meint, du bist einfach zu beschäftigt zum Schreiben und hast vergessen, dein Handy aufzuladen, aber ich hab befürchtet, dass du vielleicht krank geworden sein könntest. Du bist doch nicht krank, oder?«
»Nein«, sagte Kit. »Handys haben in dieser Gegend keinen Empfang, aber ich habe jede Woche geschrieben. Ich hab dir alles erzählt, absolut alles.«
Madame rutschte auf ihrem Schreibtischstuhl herum, und Kit rückte ein paar Schritte weiter von ihr ab, aber länger war die Telefonschnur nicht.
»Dann liegt es an der Post«, sagte Kits Mutter. »Man kann einfach nicht einschätzen, wie lange es dauert, bis eine Sendung zu Händen von American Express ankommt. Deine Briefe müssen uns überall, wo wir waren, verpasst haben. Also, erzähl es mir, wie ist es so? Musst du viel lernen? Hast du nette Freundinnen gefunden?«
»Äh, ich …« Kit bekam keine Antwort zustande. Stattdessen sagte sie: »Mom, wie lange bleibt ihr noch? Wann kommt ihr nach Hause?«
»In der Woche vor Weihnachten«, sagte ihre Mutter. »Hast du den Plan denn vergessen? Wir sind rechtzeitig zu deinen Weihnachtsferien wieder da.«
»Aber das sind ja noch Monate!«, platzte sie laut heraus. »So lange kann ich hier nicht bleiben, Mom. Das geht einfach nicht. Du verstehst das nicht.«
Madame Duret rührte sich auf ihrem Stuhl. Kit spürte, wie die scharfen Augen sie durchbohrten und umklammerte den Hörer nur noch fester.
»Ach, Schatz!« Ein Anflug von Verzweiflung lag in der Stimme ihrer Mutter. »Bist du immer noch sauer auf uns, weil wir ohne dich nach Europa gefahren sind? Ich dachte, du hättest dich damit abgefunden. Mir hast du gesagt …«
»Das ist es nicht. Ehrlich. Ich schwöre, es hat nichts damit zu tun. Ich will es dir erklären, bitte, du musst mir zuhören …«
Sie hatte so viel zu erzählen, all die Dinge, die sie in ihren Briefen vor ihr ausgebreitet hatte, und von denen sie dachte, ihre Mutter wisse sie längst. Aber jetzt stellte sich heraus, dass sie überhaupt nichts wusste. Wo sollte sie anfangen? Der Anfang lag schon so lange zurück und es war so viel … Lynda und ihre Malerei, Sandy, die Träume, die Musik, der Mann auf dem Flur, den sie sich ganz bestimmt nicht eingebildet hatte, da war sie sich sicher. Aber welche andere Erklärung konnte es für sein Verschwinden geben? Und ihre Mutter war so weit weg, nichts weiter als eine dünne kleine Stimme am anderen Ende eines transatlantischen Kabels … und die Kosten stiegen mit jeder Minute.
Aber vor allem war da Madame Duret, die neben ihr saß und jedes Wort mithörte, das sie sprach. Diese Augen, diese unmöglichen Augen, waren auf ihr Gesicht gerichtet, und sie konnte sich ihnen nicht entziehen, sie konnte ihren eigenen Blick nicht mal abwenden, sondern musste tief in sie hineinschauen. Sie hielten sie fest, durchbohrten sie wie einen mit zwei Nadeln aufgespießten Käfer.
»Mom«, sagte sie und konnte nicht weitersprechen.
»Ich glaube, dieses
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