Ein dunkler Ort
fallen. Der Streit war so heftig gewesen, dass sie sich leer fühlte und irgendwie ängstlich. Sandy war ihre Freundin, die engste Freundin, die sie in dieser abgeschotteten Welt von Blackwood hatte. Wie konnte sie nur so mit ihr reden? Sie hatte ihr tatsächlich vorgeworfen, nicht mehr ganz richtig im Kopf zu sein. Warum sollten Sandys Überlegungen eigentlich weniger wert sein als ihre eigenen oder die von Ruth? Wenn Sandy verrückt war, dann waren sie es alle.
Sie sollte Sandy zurückrufen und sich entschuldigen. Kit wusste das, dennoch war ihre Müdigkeit so groß, dass diese Anstrengung ihre Kräfte überstieg. Sie presste die Hände ganz fest auf ihre Augenlider und spürte das Pulsieren in ihrem Kopf, das ankündigte, dass die Musik gleich beginnen würde. Ich höre nicht hin , sagte sie sich. Dieses Mal bezwinge ich es. Ich werde nicht hier liegen und zuhören.
Aber wie an jenem Abend in der Küche, als Madame Duret ihr befohlen hatte, nach oben zu gehen, hörte ihr Körper nicht auf Kits inneren Befehl. Er blieb auf dem Bett liegen, und wie das Publikum im Konzert spürte Kit die Musik, die über sie hinweg strömte, leise zuerst, dann immer schneller, immer lauter und kräftiger.
Wie gern hätte sie gerufen: »Sandy, komm zurück! Komm und hilf mir!«
Doch obwohl sie in der Kehle spüren konnte, wie sie diese Worte hervorbrachte, gingen sie in der Musik unter. Sie war jetzt lauter und steigerte sich noch, bis – das wusste sie genau – sie in einem dröhnenden Crescendo ihren Höhepunkt erreichen würde.
Zu müde, dagegen anzukämpfen, gab sie allen Widerstand auf und ließ sich wie ein Blatt im Strudel der stummen Töne treiben. Schließlich schlief sie ein. Ihr war nicht bewusst, dass dies geschah, doch als sie die Augen wieder aufmachte, war das Nachmittagslicht verblasst und der Himmel vor dem Fenster dunkel.
Und diese Kälte! Es war so kalt, dass sie nicht wusste, ob sie sich bewegen konnte. Ihr ganzer Körper war bleischwer davon. Es war dieselbe seltsame Kälte, die sie in jener Nacht vor so vielen Wochen in Sandys Zimmer gespürt hatte, eine Kälte, die zu intensiv war, um natürlichen Ursprungs sein zu können, und sie brachte ein Gefühl von Feuchtigkeit mit sich und einen schwachen Geruch, den sie nicht einzuordnen vermochte.
Ein paar Augenblicke lag sie da und rührte sich nicht. Dann streckte sie mit gigantischer Anstrengung die Hand aus und fand den Lichtschalter. Die Nachttischlampe ging an und der bekannte Raum tauchte wieder vor ihr auf: die Kommode, der Schreibtisch, der Spiegel mit dem vergoldeten Rahmen, der rote Baldachin über dem Bett. Kit kämpfte gegen die Lethargie an, die sie wieder in die Bewusstlosigkeit hinabzuziehen drohte, stand auf und holte sich einen Pullover aus dem Schrank. Sie zog die Ärmel runter und knöpfte ihn bis obenhin zu, dennoch schien die Kälte durch die dicke Wolle bis in jede ihrer Poren zu dringen.
Heftig zitternd schaute sie auf die Uhr. Viertel vor sieben. Unten im Esszimmer waren sie bereits beim Abendessen. Sie konnte sich den großen runden Tisch unter dem funkelnden Kronleuchter vorstellen und die Gruppe, die sich um ihn herum versammelt hatte: Madame, herrschaftlich und elegant, der freundliche, bärtige Professor Farley, Jules, gutaussehend und tief in Gedanken versunken. Ruth wäre am Tisch. Und Sandy. Ich sollte lieber nach unten gehen , dachte Kit, und sei es nur, um Sandy zu sehen. Wenn ich es nicht tue, wird sie noch denken, dass ich nicht komme, weil wir uns gestritten haben . Je schneller zwischen ihr und Sandy wieder alles in Ordnung war, desto besser.
Bei dem Gedanken ans Essen wurde ihr ein bisschen schlecht. Doch alles war besser, als allein in einem Zimmer zu bleiben, in dem Grabeskälte herrschte.
Kit trat auf den Flur hinaus, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Hier draußen war es wärmer, aber sie zitterte immer noch. Am anderen Ende des Flurs warf die Glühbirne ihren schwachen Schein und der ganze Flur schien aus Schatten zu bestehen.
Langsam ging Kit den Flur entlang auf die Treppe zu. Im Spiegel am Ende des Ganges sah sie ein dünnes Mädchen mit bleichem Gesicht in einem dicken Pullover. Diese Gestalt kam auf sie zu.
Bin ich das? , dachte sie und erschrak vor dieser Erscheinung, den trüben Augen, dem schlaff herunterhängenden, ungekämmten Haar und dem schweren, mechanischen Gang. War das dieselbe Kit Gordy, die noch vor ein paar Monaten mit glänzenden Augen und strahlendem Gesicht den Flur entlang
Weitere Kostenlose Bücher