Ein dunkler Ort
raus.
»Komm her, setz dich.« Kit lief zu ihr, legte den Arm um sie und zog sie rüber zum Schreibtischstuhl. »Ich hole einen Waschlappen. Wir müssen diese Blutung stoppen.«
Sie ging schnell ins Bad und schnappte sich einen Waschlappen vom Regal, den sie unter kaltes Wasser hielt. Dann wrang sie ihn aus und nahm ihn mit ins Zimmer.
»Drück ihn auf die Stelle. Nein, warte, ich mach das, ich kann beide Hände benutzen.«
Sandy starrte sie ungläubig an. »Warum hast du das gemacht?«
»Ich? Glaubst du etwa, ich war das?« Kit presste den Waschlappen fest auf die Wunde.
»Na, warst du es denn nicht? Irgendjemand hat diesen Bleistift durchgebrochen und nach mir geworfen. Sonst ist hier doch niemand …« Ihre Stimme versagte, als sie begriff, was geschehen war. »Tut mir leid, Kit. Natürlich warst du das nicht. Er war hier, oder? Der Typ mit der Musik?«
»Ja«, sagte Kit. Ihre Hand zitterte, ihr war schlecht.
»Warum?«, flüsterte Sandy. »Was hat er gegen mich?«
»Es ging nicht um dich«, sagte Kit. »Es wäre genauso gelaufen, wenn jemand anders im selben Augenblick reingekommen wäre und seine Kontrolle durchbrochen hätte. Er hatte mich in seiner Gewalt, Sandy. Ich war im Begriff, seine Musik niederzuschreiben. Als du mich gerufen hast, ist deine Stimme zu mir durchgedrungen und ich bin zu mir gekommen.«
»Wer war das?« Sandys Stimme überschlug sich schluchzend. »Schubert?«
»Glaube ich nicht. Schubert war es schon lange nicht mehr. Also, soweit ich die Musik einordnen kann. Am Anfang war sie wunderschön, jetzt ist sie anders, wilder, disharmonischer. Wie Schubert fühlt es sich jedenfalls nicht an.«
»Bei mir ist es genauso«, sagte Sandy. »Deshalb komme ich heute Abend zu dir. Ich musste es dir erzählen. Ellis ist weg.«
»Weg?« Kit spürte, wie sie plötzlich Hoffnung schöpfte. »Du bist frei?«
»Nein. Oh, nein. Ellis ist ersetzt worden. Dieser Neue … ich kann ihn nicht so sehen wie Ellis, aber er ist da. Ich fühle es, wenn er in meinen Geist eindringt, es ist wie Rauch, dick und grau und schmutzig.«
»Hat er dir gesagt, wer er ist?«
»Er sagt mir gar nichts. Er redet nicht mit mir, sondern durch mich. In irgendeiner Fremdsprache. Ich verstehe ihn nicht.«
»Damit hätten wir wohl rechnen müssen«, sagte Kit. »Dass andere kommen würden. Ruth hat ja erzählt, dass es bei ihr von Anfang an so war, ein ganzer Haufen Leute hat sie mit Gedanken überschwemmt. In der Nacht, in der ich im Musikraum aufgewacht bin, habe ich es auch gespürt. Da war nicht nur die eine Stimme, sondern eine Menge anderer – und alle erhoben Anspruch auf mich, als ob ich so eine Art Gemeinschaftseigentum wäre.«
»Aber warum? Ich meine, warum sind es jetzt so viele, wenn es anfangs nur eine war?«
»Vielleicht ist die Straße jetzt offen und sie können alle durchkommen.«
»Dann können wir uns darauf gefasst machen, dass es schlimmer wird? Dass immer mehr von denen unsere Köpfe bevölkern und unsere eigenen Gedanken verdrängen, bis von uns nichts mehr übrig ist?«
Sandy weinte jetzt, leise und hoffnungslos, und das hatte nichts mit ihrem verletzten Arm zu tun. Kit nahm den Waschlappen hoch. Die Blutung war gestillt. Sie hob den Kopf und sah ihrer Freundin ins Gesicht, offensichtlich fühlten sie sich beide auf gleiche Weise elend.
»Wir müssen dagegen ankämpfen«, sagte sie. »Wir dürfen nicht aufgeben. Sie dürfen uns nicht beherrschen.«
»Aber was können wir dagegen tun? Sie sind stärker als wir, besonders, wenn es so viele sind. Sie müssen nicht ausruhen und schlafen, so wie wir, sie können uns ständig bedrängen.«
»Dann müssen wir hier raus. Wir machen einen Fluchtplan. Immerhin sind wir zu viert. Also sind es vier gegen vier, wenn du Lucretia mitzählst, die Madame so ergeben ist, dass sie alles für sie tun würde. Beide Seite sind also gleich stark.«
»Du zählst Lynda zu uns. Aber wird sie uns nützen? Und Ruth … die ist eher auf ihrer Seite als auf unserer. Sie findet es gut, was hier passiert.« Sandy schüttelte den Kopf. »Du träumst, Kit. Das funktioniert nicht. Wir können niemals hier ausbrechen. Weihnachten ist unsere einzige Hoffnung. Wenn wir bis dahin durchhalten, können wir für die Ferien nach Hause fahren. Unsere Familien erwarten uns. Es ist ausgeschlossen, dass Madame uns über die Ferien hier festhalten kann.«
»Das ist wahr«, sagte Kit. »Und Madame weiß das – und das macht mir am meisten Angst. Denn es scheint sie nicht zu kümmern.
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