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Ein dunkler Ort

Ein dunkler Ort

Titel: Ein dunkler Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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dachte Mrs Brewer. Wie glücklich ich bin! Was für ein wunderschönes Leben ich doch führe! Kit spürte, wie das Glück dieser Frau sie warm durchströmte, so als wäre es ihr eigenes. Dann, so schnell wie sie gekommen war, war die Vision verschwunden. Kit Gordy war wieder sie selbst, es war November und draußen lag die Nacht schwer über dem braunen Rasen.
    Kit ging zum Bett und setzte sich auf die Bettkante. Madames Worte fielen ihr wieder ein. Ihre Vibrationen sind noch da, sie sind Teil des Hauses. In dem schrecklichen Schmerz über den Verlust seiner Familie hatte Mr Brewer es irgendwie geschafft, die Toten zu sich zurückzurufen, die sanfte Frau mit dem lieben Gesicht, die tobenden Kinder. Er hatte seine Türen für die Welt draußen geschlossen und mit seiner Geisterfamilie genauso weitergelebt wie er es getan hätte, wenn sie in Fleisch und Blut bei ihm gewesen wären.
    Der Gedanke überstieg alle Vorstellungskraft.
    Der Schlaf bedrängte sie jetzt. Kit spürte sein Gewicht auf ihren Augenlidern. Ich gebe nicht nach , sagte sie sich heftig. Das tu ich nicht!
    Leise, ganz am Rande ihres Bewusstseins, hörte sie die Musik, schwach und weit weg, bereit jedoch, näher zu kommen, in sie einzudringen und die Herrschaft über sie zu übernehmen, sollte ihr Bewusstsein auch nur ein klein wenig schwinden.
    Haut ab , schrie Kit stumm. Wer ihr auch seid: verschwindet! Ihr habt eure Zeit auf der Erde gehabt! Das ist meine Zeit! Meine!
    Das Bett war weich, verlockend, es zog sie an. Ihr Kopf berührte das Kissen und sank hilflos in die Federn. Der scharlachrote Baldachin schien über ihr zu schwanken, schwindelerregend, hypnotisch … und in ihren Ohren wurde die Musik lauter. Dieses Mal war es nicht nur das Klavier, sondern auch Streicher, die hohen, süßen Stimmen von Geigen, der satte Ton von Bratschen, die melodischen Klänge einer Harfe. Und dann kam die Flöte dazu, hell und trillernd wie der Gesang eines Vogel.
    »Nein«, jammerte sie. »Nein!«
    Aber sie hatte ihren Widerstand aufgegeben, es war über sie gekommen und sie war ein Teil davon, der mitgerissen wurde von der Musik wie von einer Welle.
    »Du musst es aufschreiben«, sagte der Traum-Mann. Wie leicht er jetzt zu ihr fand, es war, als ob er dorthin gehörte und sich ganz zu Hause fühlte in ihrem Kopf. »Du musst das zu Papier bringen. Etwas so Großartiges darf nicht verloren gehen.«
    »Ich kann es nicht«, antwortete Kit. »Ich weiß nicht, wie man Musik aufschreibt.«
    »Das sage ich dir. Steh auf. Hier, nimm meine Hand, ich führe dich zum Schreibtisch. Hol dir einen Bleistift.«
    »Ich hab kein Notenpapier. Das solltest du wissen.«
    »Du hast welches. Sieh doch!«
    Und sie sah es. Da lag es, ein Notenheft in Blassblau, das darauf wartete, von ihr benutzt zu werden. Jemand hatte es gekauft und in ihr Zimmer gelegt, während sie unten im Salon gewesen war. Madame? Oder Jules? Die Person, die auch bei anderer Gelegenheit in ihr abgeschlossenes Zimmer gekommen war, und Lyndas erstes Portrait weggenommen hatte? Irgendwann wäre ihr diese Frage einmal wichtig erschienen, aber jetzt spielte das keine Rolle.
    Egal, wer es nun gewesen war, es war einerlei.
    »Ich will das nicht tun«, sagte Kit. »Ich will nichts aufschreiben. Du kannst mich nicht zu etwas zwingen, das ich nicht tun will.«
    Aber noch während sie sprach, streckte sie die Hand nach dem Bleistift aus. Ihre Finger nahmen ihn und sie hob ihn und zog das Papier zu sich heran.
    »Kit!« Die dröhnende Musik wurde von einer bekannten Stimme durchdrungen, die ihren Namen rief.
    »Was? Wo?« Mit einem entschlossenen Ruck riss Kit die Barriere zwischen den beiden Welten ein.
    Sandy stand in der Tür. Sie war im Pyjama, ihr Haar war zerwühlt und ihre Sommersprossen bildeten einen scharfen Kontrast zu ihrer weißen Haut.
    »Hier drinnen ist es ja so kalt«, sagte Sandy und schlang die Arme um ihren Körper. »Ist dein Fenster offen? Wie kannst du hier so sitzen, wenn es kalt ist wie …«
    Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Der Bleistift flog aus Kits Hand und zerbrach mitten in der Luft mit einem lauten Knack. Wie aus einem Gewehrlauf schoss das spitze Ende durch den Raum. Sandy schrie, riss die Hände hoch und hielt sie sich schützend vors Gesicht.
    Entsetzt sah Kit das Blut aus dem Unterarm ihrer Freundin spritzen.
    »Sandy!«, rief sie. »Du bist verletzt!«
    Sandy ließ die Hände sinken und starrte verwirrt auf das dünne Holzstück, das aus ihrem Arm ragte. Wie in Trance zog sie es

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