Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
als sie sich bei den Pleinsworths beworben hatte, selbst diejenige, die nicht gut geendet hatte. Wenn möglich, bemühte Anne sich stets um Ehrlichkeit, vermutlich weil es ihr so oft nicht möglich war. Und sie war Lady Pleinsworth überaus dankbar dafür, dass sie nicht geringer von ihr dachte, weil sie eine Stellung gekündigt hatte, bei der sie sich jeden Tag vor dem Vater ihres Schützlings hatte verbarrikadieren müssen.
Lord Winstead betrachtete sie mit einem durchdringenden Blick und meinte schließlich: „Ich glaube immer noch nicht, dass Sie eine Wynter sind.“
Von dieser Idee schien er förmlich besessen zu sein, was Anne irritierte. Sie zuckte mit den Achseln. „Ich kann nicht viel dagegen machen. Höchstens heiraten.“ Was äußerst unwahrscheinlich war, wie sie beide wussten. Gouvernanten hatten selten Gelegenheit, Herren ihres Standes zu begegnen. Außerdem wollte Anne nicht heiraten. Sie konnte sich nicht vorstellen, einem Mann vollkommene Kontrolle über ihr Leben und ihren Körper zu gewähren.
„Schauen Sie sich mal diese Dame an“, sagte er und nickte zu einer Frau hinüber, die Frances und Elizabeth naserümpfend auswich, als diese ihr über den Weg sprangen. „Die sieht nach Wynter aus. Eisblond, charakterkalt.“
„Wie wollen Sie ihren Charakter beurteilen?“
„Ich war nicht ganz aufrichtig“, räumte er ein. „Ich habe sie mal gekannt.“
Anne wollte nicht darüber nachdenken, was das bedeutete.
„Ich finde, Sie sind eher ein Herbst“, überlegte er laut.
„Lieber wäre ich der Frühling“, sagte sie leise. Eher zu sich selbst.
Er fragte sie nicht, warum. Darüber dachte sie erst später nach, als sie in ihrem kleinen Zimmer war und den Tag noch einmal Revue passieren ließ. Eine solche Bemerkung hätte eigentlich eine Erklärung erforderlich gemacht aber er hatte sie nicht darum gebeten. Er war so einfühlsam gewesen, es nicht zu tun.
Jetzt wünschte sie sich, er hätte nachgefragt. Wenn er gefragt hätte, würde sie ihn jetzt nicht so mögen.
Und sie hatte das Gefühl, dass es nur ihr Untergang sein könnte, wenn sie den berühmt-berüchtigten Daniel Smythe-Smith, Earl of Winstead, mochte.
Als Daniel an diesem Abend nach Hause ging, nachdem er Marcus noch einen kurzen Besuch abgestattet hatte, um ihm in aller Form zu gratulieren, wurde ihm klar, dass er sich nicht daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal einen Nachmittag so genossen hatte.
Schließlich hatte er die letzten drei Jahre seines Lebens im Exil verbracht, wo er dauernd vor Lord Ramsgates bezahlten Schlägern auf der Flucht gewesen war. Ein solches Leben lud nicht ein zu gemütlichen Ausflügen und ungezwungenen, anregenden Gesprächen.
Aber genau so war sein Nachmittag verlaufen. Während die Mädchen auf der Rotten Row Schritte zählten, hatten er und Miss Wynter auf der Bank gesessen und über Gott und die Welt geplaudert. Und die ganze Zeit hatte er sich gegen den Wunsch gewehrt, ihre Hand zu nehmen.
Das war alles. Nur ihre Hand.
Er hätte sie an die Lippen geführt und seinen Kopf in zärtlichem Gruß darüber gebeugt. Er war davon überzeugt, dass dieser schlichte, ritterliche Kuss der Anfang von etwas ganz Erstaunlichem gewesen wäre.
Deswegen hätte er sich damit zufriedengegeben. Weil es eine Verheißung gewesen wäre.
Jetzt, da er allein war mit seinen Gedanken, ließ er seiner Fantasie freien Lauf. Er dachte an Annes Halsbeuge, an ihre seidigen Haare. Er konnte sich nicht entsinnen, eine Frau je auf diese Art begehrt zu haben. Es überstieg bloße Begierde. Seine Sehnsucht ging über das rein Körperliche hinaus. Er wollte sie verehren, sie ...
Der Schlag kam unvermittelt, traf ihn am Ohr, und er taumelte rückwärts gegen einen Laternenmast.
„Was zum Teufel?“, rief er und schaute gerade rechtzeitig auf, um festzustellen, dass er es mit zwei Männern zu tun hatte.
„Aye, so ist es brav“, sagte einer von ihnen und machte eine schlangengleiche Bewegung im abendlichen Dunst. Im tranigen Lampenlicht sah Daniel ein Messer aufblitzen.
Ramsgate.
Das waren seine Männer. Sie mussten es sein.
Verdammt, Hugh hatte ihm versprochen, dass er bei seiner Rückkehr in Sicherheit wäre. War er ein Narr gewesen, ihm zu glauben, hatte er sich so verzweifelt nach seinem Zuhause gesehnt, dass er die Wahrheit nicht hatte erkennen können?
In den letzten drei Jahren hatte Daniel gelernt, mit schmutzigen Tricks zu kämpfen. Der erste Angreifer lag schon zusammengekrümmt auf dem Pflaster,
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