Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
„Gerüchte machen die Runde.“
Tatsächlich? Worüber denn?
„Margaret hat mir erzählt, sie hätte gehört, dass Sarah am Abend der musikalischen Soiree gar nicht wirklich krank gewesen sei, sondern uns nur das Konzert verderben wollte.“
Anne wusste nicht, wer diese Margaret war, doch man konnte nicht abstreiten, dass die Dame gut informiert war.
„Als ob Sarah so etwas tun würde“, fuhr Lady Pleinsworth fort. „Sie ist eine so ausgezeichnete Musikerin. Und eine pflichtbewusste Tochter. Das ganze Jahr fiebert sie der musikalischen Soiree entgegen.“
Darauf konnte Anne nun wirklich nichts sagen, doch zum Glück schien Lady Pleinsworth nicht auf Antwort zu warten.
„Wir können diesen bösartigen Lügen nur auf eine Weise begegnen“, rief sie aufgeregt, „wir müssen die Stadt verlassen.“ „Die Stadt verlassen?“, wiederholte Anne. Das kam ihr doch ein wenig übereilt vor. Die Saison nahm gerade Fahrt auf, und Anne hatte gedacht, ihr Hauptziel sei es, einen Mann für Lady Sarah zu finden. Was ihnen in Dorset wohl kaum gelingen würde, wo die Pleinsworths seit sieben Generationen lebten.
„Allerdings.“ Lady Pleinsworth seufzte energisch auf. „Ich weiß, dass Sarah aussieht, als ginge es ihr gesundheitlich schon viel besser, und vielleicht ist dem auch so. Aber was den Rest der Welt anbetrifft, für den muss sie weiterhin sterbenskrank sein.“ Anne blinzelte, versuchte ihrer Arbeitgeberin zu folgen. „Würde das nicht die Dienste eines Arztes erfordern?“
Lady Pleinsworth winkte ab. „Nein, gesunde Landluft reicht. Jeder weiß, dass man sich in der Stadt nicht richtig erholen kann.“
Anne nickte, insgeheim erleichtert. Sie zog das Leben auf dem Land dem in der Stadt vor. Sie hatte im Südwesten Englands keine Verwandten, und das war ihr recht. Außerdem waren da noch ihre Gefühle für Lord Winstead. Es galt, sie gründlich im Keim zu ersticken, und zweihundert Meilen Abstand zu diesem Mann schien der erfolgversprechendste Weg zu sein. Sie legte die Feder hin und fragte Lady Pleinsworth: „Wie lang werden wir in Dorset sein?“
„Oh, wir fahren nicht nach Dorset. Gott sei Dank. Es ist eine so anstrengende Reise. Wir müssten mindestens vierzehn Tage dort bleiben, wenn auch nur irgendwer glauben soll, dass Sarah auch nur etwas Ruhe und Erholung abbekommt.“
„Und wo...“
„Wir fahren nach Whipple Hill.“ Lady Pleinsworth nickte eifrig, als wollte sie sich selbst zu dieser Reise ermuntern. „Das befindet sich in der Nähe von Windsor, in Berkshire. Dorthin sind wir nicht mal einen Tag unterwegs.“
Whipple Hill? Wieso kam ihr das bekannt vor?
„Lord Winstead hat es vorgeschlagen.“
Anne begann plötzlich zu husten.
Lady Pleinsworth betrachtete sie einigermaßen besorgt. „Geht es Ihnen auch gut, Miss Wynter?“
„Hab nur ... ähm ... ein wenig ... ähm, ähm ... Staub in den Hals bekommen. Glaube ich.“
„Ach, dann setzen Sie sich doch, wenn Ihnen das hilft. Wir geben doch nichts auf Etikette, zumindest nicht im Augenblick.“
Anne nickte dankbar und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Lord Winstead. Sie hätte es wissen müssen.
„Es ist für uns alle die ideale Lösung“, meinte Lady Pleinsworth nun. „Lord Winstead möchte London ebenfalls verlassen. Das ganze Gerede, müssen Sie wissen. Seine Rückkehr spricht sich allmählich herum, bald wird er sich vor Besuch nicht mehr retten können. Wer kann ihm vorwerfen, dass er eine friedvolle Wiedervereinigung mit seiner Familie wünscht?“
„Dann wird er uns begleiten?“, erkundigte sich Anne vorsichtig.
„Natürlich. Das Anwesen gehört ihm. Es würde merkwürdig erscheinen, wenn wir ohne ihn dorthin führen, auch wenn ich seine Lieblingstante bin. Ich glaube, seine Schwester und Mutter kommen auch mit, aber da bin ich mir nicht sicher.“ Lady Pleinsworth machte eine Pause, um Luft zu holen, und sah dabei recht zufrieden aus. „Nanny Flanders kümmert sich um das Gepäck der Mädchen, da Sie heute Ihren freien Nachmittag haben. Aber wenn Sie bei Ihrer Rückkehr noch einen Blick darauf werfen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar. Nanny ist eine gute Seele, aber sie wird allmählich alt.“
„Natürlich“, murmelte Anne. Sie liebte die Nanny sehr, aber die Gute war in letzter Zeit immer schwerhöriger geworden. Anne hatte Lady Pleinsworth stets dafür bewundert, dass sie sie weiterbeschäftigte, allerdings war sie schon ihre Amme gewesen, und die Amme von Lady Pleinsworths Mutter.
„Wir werden
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