Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
eine Woche unterwegs sein“, fuhr Lady Pleinsworth fort. „Sorgen Sie bitte dafür, dass Sie genügend Unterrichtsmaterial einpacken, um die Mädchen auf Trab zu halten.“
Eine Woche? Bei Lord Winstead? In Lord Winsteads Anwesenheit?
Anne sank das Herz, und gleichzeitig sprang es vor Freude.
„Ist mit Ihnen wirklich alles in Ordnung?“, fragte Lady Pleinsworth. „Sie sehen schrecklich blass aus. Hoffentlich haben Sie sich nicht bei Sarah angesteckt.“
„Nein, nein“, versicherte Anne ihr. „Das wäre völlig unmöglich.“
Lady Pleinsworth warf ihr einen Blick zu.
„Was ich sagen wollte, ist, dass ich mit Lady Sarah kaum Kontakt hatte“, verbesserte Anne sich hastig. „Mir geht es gut. Ich brauche nur ein bisschen frische Luft. Wie Sie sagen, die Landluft kuriert alles.“
Falls Lady Pleinsworth dieses Geplapper untypisch für Anne fand, erwähnte sie es nicht. „Nun denn, dann passt es ja gut, dass Sie den Nachmittag für sich haben. Wollen Sie ausgehen?“ „Ja, vielen Dank.“ Anne stand auf und eilte zur Tür. „Ich sollte besser aufbrechen. Ich habe eine Menge Besorgungen zu machen.“ Sie knickste rasch und lief dann in ihr Zimmer hinauf, um ihre Sachen zu holen, ein leichtes Schultertuch, falls es kühl wurde, ihr Retikül mit ein wenig Geld und - sie öffnete die unterste Schublade und tastete unter ihrer spärlichen Kleidung -da war er ja. Sorgfältig versiegelt und bereit zum Verschicken. Anne hatte in ihrem letzten Brief eine Zweieinhalb-Shilling-Münze mitgeschickt und war sich nun sicher, dass Charlotte bei der Ankunft dieses Briefes das Porto würde zahlen können. Der einzige Trick bei der Sache war, dafür zu sorgen, dass sonst keiner mitbekam, wer den Brief geschickt hatte.
Anne schluckte, überrascht von dem Kloß in ihrem Hals. Man hätte meinen sollen, dass sie es inzwischen gewohnt war, die Briefe an ihre Schwester mit falschem Namen zu unterzeichnen, denn anders ging es nicht. Eigentlich sogar mit doppelt falschem Namen. Sie unterschrieb nicht einmal mit Anne Wynter, ein Name, der sich inzwischen ebenso vertraut anfühlte wie ihr echter Name Annelise Shawcross.
Mit Bedacht steckte sie den Brief in ihr Retikül und ging die Treppe hinunter. Sie fragte sich, ob der Rest ihrer Familie ihre Schreiben je zu Gesicht bekommen hatte und wenn ja, wen sie hinter dem Namen Mary Philpott vermuteten. Charlotte hatte sich dazu sicher eine gute Geschichte einfallen lassen.
Es war ein schöner Frühlingstag; der Wind wehte gerade stark genug, dass sie sich wünschte, sie hätte ihren Hut fester gebunden. Sie überquerte den Berkeley Square Richtung Piccadilly, denn abseits der Hauptstraße befand sich eine Poststelle, zu der sie ihre Briefe am liebsten brachte. Es gab Poststellen, die näher an Pleinsworth House lagen, doch die Gegend hier war belebter, und Anne zog die hier gebotene Anonymität vor. Außerdem war sie gern zu Fuß unterwegs, und es war ihr immer eine Freude, es in ihrer eigenen Geschwindigkeit tun zu können.
Auf der Piccadilly war wie immer viel los, und sie wandte sich ostwärts, passierte ein paar Läden und raffte dann die Röcke, um über die Straße zu gehen. Ein halbes Dutzend Kutschen rollte vorüber, aber keine schnell, und so setzte sie gemächlich einen Fuß vor den anderen über das Kopfsteinpflaster, trat auf den Gehweg und ...
Oh, lieber Gott.
War das ...? Nein, unmöglich. Er kam nie nach London. Zumindest früher nicht. Also, bisher nicht, und ...
Anne schlug das Herz bis zum Hals, und kurzfristig hatte sie das Gefühl, als würde sich ihr Gesichtsfeld verengen und verdunkeln. Sie zwang sich, tief einzuatmen. Denk nach. Sie musste nachdenken.
Dasselbe rötlich blonde Haar, dasselbe umwerfend attraktive Profil. Sein Aussehen war immer unvergleichlich gewesen; es war schwer vorstellbar, dass er in der Hauptstadt einen Doppelgänger hatte, der sich in London herumtrieb.
Anne spürte, wie ihr heiße, zornige Tränen in die Augen stiegen. Das war nicht gerecht. Sie hatte alles getan, was man von ihr erwartete. Sie hatte die Verbindung zu allem und jedem abgebrochen. Sie hatte einen anderen Namen angenommen und hatte sich bei Fremden verdingt, und sie hatte versprochen, dass sie niemals darüber reden würde, was vor langer, langer Zeit in Northumberland geschehen war.
Doch George Chervil hatte geschworen, sich zu rächen. Und wenn der Mann vor Burnells Kurzwarengeschäft tatsächlich er war ...
Sie durfte nicht herumstehen und abwarten, um sich zu
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