Ein Earl mit Mut und Leidenschaft
Abreise den Magen verdorben und war in London geblieben. Daher musste Anne neben ihren Aufgaben als Gouvernante auch die Pflichten der Nanny übernehmen, was bedeutete, dass sie die Mädchen in ihren Zimmern unterbringen musste, bevor sie sich um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern konnte. Lady Pleinsworth hatte ihr einen extra freien Nachmittag versprochen, solange sie auf dem Land weilten, aber sie hatte nicht gesagt, wann genau, und Anne befürchtete, ihre Dienstherrin könnte es einfach vergessen.
„Kommt mit, Mädchen“, sagte sie energisch. Harriet war zu einer der anderen Kutschen vorgelaufen - die, in der Sarah und Lady Pleinsworth saßen -, und Elizabeth zu einer anderen Kutsche weiter hinten. Worüber Elizabeth allerdings mit den Zofen dort sprach, war Anne vollkommen schleierhaft.
„Ich bin aber hier“, sagte Frances tapfer.
„Allerdings“, erwiderte Anne. „Ein goldenes Sternchen für dich.“
„Es ist wirklich schade, dass Sie keine echten Goldsterne haben. Dann müsste ich mein eigenes Geld nicht so zusammenzuhalten.“
„Wenn ich tatsächlich Goldsterne hätte“, entgegnete Anne mit hochgezogenen Brauen, „dann müsste ich nicht eure Gouvernante sein.“
„Touché!“, rief Frances bewundernd.
Anne zwinkerte ihr zu. Die Bewunderung einer Zehnjährigen errungen zu haben hatte etwas sehr Befriedigendes an sich. „Wo sind deine Schwestern jetzt?“, brummte sie und rief dann: „Harriet! Elizabeth!“
Harriet kam herbeigehüpft. „Mama sagt, dass ich mit den Erwachsenen zu Abend essen darf, solange wir hier sind.“ „Oooh, darüber wird Elizabeth aber gar nicht glücklich sein“, prophezeite Frances.
„Worüber werde ich nicht glücklich sein?“, erkundigte sich Elizabeth, die ebenfalls erschienen war. „Und ihr glaubt nicht, was Peggy mir eben erzählt hat.“
Peggy war Sarahs Zofe. Anne mochte sie, auch wenn sie ein schreckliches Klatschweib war.
„Was hat sie denn gesagt? “, fragte Frances. „Und Harriet wird mit den Erwachsenen essen, solange wir hier sind.“
Elizabeth keuchte vor plötzlich aufwallendem Zorn laut auf. „Das ist ganz offensichtlich ungerecht. Und Peggy hat gesagt, Sarah hätte gesagt, Daniel hätte gesagt, dass Miss Wynter ihre Mahlzeiten ebenfalls mit der Familie einnehmen soll.“
„Dazu wird es nicht kommen“, meinte Anne entschieden. Es wäre höchst ungewöhnlich - eine Gouvernante gesellte sich normalerweise nur dann zur Familie, wenn ein zusätzlicher Gast vonnöten war und darüber hinaus hatte sie zu arbeiten. Sie legte Frances eine Hand auf den Kopf. „Ich esse mit dir.“ Nanny Flanders’ Krankheit erwies sich nun unerwartet als Segen. Anne konnte sich nicht vorstellen, was Lord Winstead sich dabei gedacht hatte, sie zum Essen in den Kreis der Familie zu bitten. Wenn es je einen Schachzug gab, der dazu angetan war, sie in eine ungünstige Lage zu manövrieren, dann war es dieser. Der Schlossherr wollte mit der Gouvernante dinieren? Da hätte er gleich damit herausrücken können, dass er versuchte, sie in sein Bett zu bekommen.
Was er ihrer Meinung nach auch tat. Es wäre ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie unwillkommene Annäherungsversuche seitens ihrer Arbeitgeber abwehren musste.
Aber es wäre das erste Mal, dass ein Teil von ihr gern nachgegeben hätte.
„Guten Abend!“ Es war Lord Winstead, der auf den Säulenvorbau getreten war, um sie zu begrüßen.
„Daniel!“, kreischte Frances. Sie machte eine Kehrtwende, schleuderte Staub über ihre Schwestern, rannte auf ihren Vetter zu und hätte ihn beinahe umgeworfen, als sie ihm in die Arme sprang.
„Frances!“, schalt Lady Pleinsworth. „Du bist viel zu alt, um dich derart ungestüm aufzuführen.“
„Es macht mir nichts aus“, sagte Lord Winstead und lachte. Er zauste Frances das Haar, was ihm ein breites Grinsen eintrug.
Frances fragte ihre Mutter: „Wenn ich zu alt bin, um mich so zu benehmen, heißt das dann, dass ich alt genug bin, um mit den Erwachsenen zu essen?“
„Noch lang nicht“, erwiderte Lady Pleinsworth resolut. „Aber Harriet...“
„... ist fünf Jahre älter als du.“
„Wir machen es uns im Kindertrakt gemütlich“, verkündete Anne und ging hinüber, um ihren Schützling von Lord Winstead zu pflücken. Er drehte sich zu ihr; in seinen Augen blitzte eine Intimität, von der ihr ganz warm wurde. Gleich würde er sie einladen, mit ihnen zu Abend zu essen, und so fügte sie hinzu, laut genug, dass alle sie hören konnten:
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