Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
wohnte, sprach sie nicht mehr mit ihm, würdigte ihn keines Blickes, nicht einmal dann, wenn er an die Rezeption kam und sie ansprach. Wenn sie sich auf der Straße begegneten oder sich im Sportscafé gegenübersaßen, war Arvid Lunde Luft für sie.
Bereits in seiner zweiten Woche in Odda musste der Mann eine ganze Nacht im Freien verbringen. Als er am Abend ins Sørfjordheim zurückkehren wollte, war die Eingangstür verschlossen. In seiner Verwirrung hatte er den Schlüssel vergessen, und als er den winzigen Klingelknopf betätigte, machte niemand auf. Er stellte sich vor die Glastür und beschattete mit der Hand die Augen. Blondie war zurück an ihrem Platz hinter der Theke, aber sie übersah ihn gnadenlos. Sie telefonierte und blickte nicht ein einziges Mal in seine Richtung. In seinem weißen Hemd und der zu kurzen Anzughose schlich Arvid Lunde durch das Zentrum und wartete darauf, dass der Tag anbrach und die Türen im Sørfjordheim wieder geöffnet wurden. Er lief in den Straßen auf und ab, starrte in die Schaufensterauslagen und prägte sich die Preise sämtlicher Waren ein, die der Einzelhandel in Odda in dieser Woche ausstellte.
Arvid Lunde hatte mit etwas Glück die Stelle am Gymnasium Odda bekommen. Direktor Brink kannte seinen Vater Harold vom Bridgespiel in Bergen und nahm Kontakt zu ihm auf, als er händeringend einen Lehrer mit den Fächern Geschichte und Deutsch suchte. Zu Schuljahresbeginn hatte er den Personalmangel provisorisch gelöst, indem er den ehemaligen Direktor aus Røldal zurückholte. Alle wussten, dass der Kerl nach seiner Pensionierung vor die Hunde gegangen war, dass er zu Hause saß, Alkohol trank und verschüttete, Trinklieder schmetterte und beim Blick auf die Berge Naturlyrik verfasste. Die Lehrer am Gymnasium Odda hatten wohl in einer Luftblase gelebt, als sie, ohne zu zögern, den Staub von dem Pensionär abklopften, der die Schule dreißig Jahre lang mit eiserner Hand geleitet hatte.
Die Schüler wunderten sich, als ein eingefallener Mann mit einem weißen Hemd voller Whiskyflecken, einem braunen Anzug aus den Sechzigern und Witzen aus den Fünfzigern vor ihnen stand. Der ehemalige Direktor rief: RUHE!, auch wenn es im Klassenzimmer mucksmäuschenstill war. Die Schüler begriffen rasch: Der Ausruf war nur dadurch zu erklären, dass der ehemalige Direktor nahezu taub war. Er ging grundsätzlich davon aus, dass in einer Klasse Lärm herrschte oder zumindest die Bereitschaft für Lärm bestand. Die heutige Jugend war durch und durch ungezogen, gab man ihr den kleinen Finger, nahm sie die ganze verfluchte Hand. JETZT IST SCHLUSS MIT GESCHENKEN!, schrie er im Unterricht und warf den Schülern vor, faul und passiv zu sein. Jede Geschichtsstunde handelte vom Zweiten Weltkrieg und davon, wie der ehemalige Direktor eigenhändig ganze Armeen und deutsche Elitesoldaten niedergestreckt hatte.
Außerdem war der Typ scharf auf Mädchen. Er pflegte mit einem Parker-Kugelschreiber auf die Schülerin zu zeigen, die vor zur Tafel musste. Aus irgendeinem Grund wurden immer die vier oder fünf hübschesten Mädchen ausgewählt, als wäre der Stift ein männliches Geschlechtsorgan mit eindeutigen Präferenzen. An der Tafel fragte der alte Direktor die Mädchen aus und schikanierte sie. Er ließ sie Sätze ins Deutsche übersetzen: STRANDFLIEDER IST AUCH EINE BEERENSORTE, oder: IHRE BRÜSTE LEUCHTETEN WIE EIN DOPPELTER MOND IN EINER SEPTEMBERNACHT. Vom Deutschen ins Norwegische ging er noch weiter, das hübscheste Mädchen der Klasse musste mit hochrotem Kopf übersetzen: IMMER WENN ER ETWAS ÜBER DEN ZWEITEN WELTKRIEG LAS, BEKAM ER EINEN GEWALTIGEN STÄNDER. Er tadelte die Schüler hemmungslos und vergab bestenfalls eine 4 minus. Als sich die Schüler beschwerten, wurde der ehemalige Direktor mit dem Vorwurf der Schikane und der fachlichen Inkompetenz konfrontiert. Auch musste er zugeben, dass sein Einsatz als Widerstandskämpfer wohl nicht ganz so bedeutend gewesen war, wie er es darzustellen versucht hatte. Er entschuldigte sich damit, dass er den Schülern Werte habe vermitteln wollen. Den Vorwurf der Schikane wies er weit von sich. Die Leute in Odda waren der Meinung, man hätte dem alten Ehrenmann einen solchen Abgang ersparen sollen. Bis dahin sei sein Ruf untadelig gewesen, der alte Direktor habe seinen Ruhestand verdient.
Per Chr. Brink übernahm die Klasse. Rasch stellte sich heraus, dass auch der jetzige Direktor kein besonders guter Lehrer war. Er hatte seit Jahren nicht mehr
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