Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
sei seine Pflicht zu zeigen, dass Geschichtsschreibung nicht objektiv war. Allen Abhandlungen, jeder Forschung lag eine Haltung oder eine bestimmte Perspektive zugrunde. Geschichte ist nichts, was abgeschlossen ist, sagte Lunde im Unterricht, Geschichte geschieht hier und jetzt. Er las Artikel aus Time und Newsweek vor. Er brachte Auszüge aus den Wahlkampfreden Reagans und Carters mit, die Schüler mussten sie analysieren und benoten. Er zog Verbindungslinien zur Industrialisierung Oddas und verwies auf das kollektive Projekt, aus dem ein neues Norwegen hervorgegangen war. Ronald Reagan hingegen war ein engstirniger amerikanischer Archetyp, der allein durch die Prärie ritt.
Am Wahlabend lud Lunde alle Schüler zur Wahlparty ins Sørfjordheim ein. Dank eines ausgesprochen fernsehinteressierten Pensionsbesitzers gab es in den Zimmern mehrere neue Kanäle, unter anderem CNN, der gerade in Atlanta, Georgia, an den Start gegangen war. In der verregneten Novembernacht setzt Arvid Lunde seinen Schülern Cola, Chips und Marshmallows vor. In einem vollbesetzten Zimmer verfolgen sie die Auszählung auf Ted Turners neuem Kanal. Ronald Reagan wird zum 40. Präsidenten der amerikanischen Geschichte gewählt. Der frühere Schauspieler geht als Sieger hervor, nachdem er 51 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, er hat im bevölkerungsreichen Mittleren Westen einen wahren Erdrutschsieg hingelegt. Todmüde wanken die Schüler nach Hause. Der neue Lehrer stellt sich ans Fenster und sieht die Autoscheinwerfer der Frühschichtler auf dem Weg zum Schmelzwerk und zur Zinkfabrik. Minuten später kommen die Arbeiter, die nach Hause fahren, um sich in ihre kalten Betten zu legen. Arvid Lunde steht reglos da, fühlt sich wie der richtige Mann am richtigen Ort. Endlich ist er in der Industriestadt angekommen. Im Weißen Haus haben sie jetzt einen Cowboy. In Odda Arvid Lunde.
Wie geht es weiter? Nun, im Februar 1981 wird Arvid Lunde Kaffeeverantwortlicher am Gymnasium Odda. Diese Position sollte man keineswegs unterschätzen. Wollen wir uns einen Kaffee gönnen?, fragen wir. Jetzt wäre ein Kaffee nicht schlecht, sagen wir. Mann, tut der Kaffee gut. Arvid Lunde kam selten als Erster zur Arbeit, aber er kam immer pünktlich. Jeden Morgen stieg Arvid Lunde wie grauer Rauch das Odda-Tal hinauf. Mit der Hochwasserhose und einer abgegriffenen Aktentasche verließ er um 7:30 Uhr das Sørfjordheim . Vier Minuten später kam der neue Lehrer am Rathaus vorbei, erreichte um 7:43 Uhr den Meierisvingen, spazierte am Krankenhaus entlang, bevor er die 139 Treppenstufen zum Gymnasium erklomm, von dem aus man eine schöne Aussicht auf das Provinzstädtchen hat. Um 7:51 Uhr hängte Arvid Lunde im Lehrerzimmer seinen Mantel an die Garderobe und setzte die Kaffeemaschine in Gang. Er betonte gern, wie sehr er diese Minuten am Morgen genoss, Wasser nachfüllen, die Kaffeesorte auswählen, die richtige Menge abmessen, die Maschine einschalten, auf den ersten Schluck des Tages warten. Es hatte etwas, den Tag mit diesen Handgriffen zu beginnen, im Verlauf des Vormittags noch mehr Kaffee zuzubereiten und den Totalverbrauch im Lehrerzimmer zu begutachten. Am Ende des Tages spülte er den Kolben und den Trichter und achtete darauf, dass das Lämpchen nicht mehr brannte, bevor er hocherhobenen Hauptes nach Hause ging. Ob es an dieser Aufgabe lag, dass er vom Kollegium akzeptiert wurde, mag dahingestellt sein, doch nach einem halben Jahr als Kaffeeverantwortlicher setzte er durch, dass eine neue Maschine gekauft wurde. Lunde erklärte, in der alten würde das Wasser zu langsam durchlaufen, was das Fett, das sich in den Bohnen befand, freisetzen würde, weshalb das Endprodukt ranzig und bitter schmeckte. In einer Ecke flüsterte ein Witzbold, dass das verdammt gut die Stimmung im Lehrerzimmer erklären könne. Alle waren sich einig, dass der Erlös aus der freitäglichen Weintombola in eine neue Kaffeemaschine fließen sollte.
Im Dezember stand ein doppelter Moccamaster in Schwarz metallic zum Einsatz bereit. Die Maschine hatte eine Verkalkungsanzeige, eine Tropfstoppfunktion und war vom Norwegischen Kaffeeverband abgesegnet worden. Arvid Lunde pflegte die neue Maschine gewissenhaft. Der Kaffee schmeckte himmlisch, das Wasser wurde so verteilt, dass Aroma und Geschmack sich voll entfalten konnten. Direktor Brinks Kommentar: Um die Maschine zu bedienen, benötigt man ein Hochschulstudium. Arvid Lunde lachte. Er war tatsächlich der Einzige, der mit dem
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