Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
einziehen. Er sei hier an Land gegangen, weil Odda zu den wichtigsten Städten Norwegens gehöre. Zu den wichtigsten Städten Norwegens?, fragte Blondie. Ja, sagte Arvid Lunde, vergessen wir nicht, dass Orte wie Odda Norwegen modernisiert haben. Wenn Sie mich fragen, sagte Blondie, ist es ein übles Loch. Aber wer Norwegen verstehen will, muss Odda verstehen, protestierte Arvid Lunde. Wenn Sie Odda verstehen, stimmt ernsthaft was nicht mit Ihrem Kopf, sagte Blondie. Sie stand auf und legte versuchsweise eine Hand in seinen Nacken. Sie behauptete, dass kein Mensch freiwillig in Odda wohne. Arvid Lunde sagte, man dürfe die Geschichte nicht vergessen. Odda sei ein Ort, an den die Menschen bewusst gezogen seien, sie seien von überallher gekommen, um das neue Norwegen zu erschaffen.
Ein paar Jahre später konnten wir mehreren Zeitungsinterviews entnehmen, dass Arvid Lunde diese Behauptungen wiederholt hatte. Der Rest Norwegens habe Odda nicht verstanden, meinte er, die meisten Menschen hätten nicht verstanden, wie sehr Odda seiner Zeit voraus gewesen sei. Odda war der erste Repräsentant des modernen Norwegen. Odda war geradezu die Speerspitze einer jungen Nation. Auf die direkte Frage, ob er selbst Odda verstanden habe, antwortete Arvid Lunde eher ausweichend. In einem großen Interview in der Zeitung Verdens Gang sagte er beispielsweise, kein Mensch könne eine Stadt voll und ganz verstehen, es gehe einem wie mit sich selbst, man verstehe sich selbst auch nicht voll und ganz, obwohl man doch am besten wissen müsse, wie man zu dem geworden ist, der man ist. Man selbst sei für sich das allergrößte Mysterium, sagte Arvid Lunde 1985 zu VG . Die Leute lasen das Interview am Frühstückstisch, sie lasen es beim Mittagessen oben in Freim und im Umland, und sie lasen es, bevor sie sich in Rødna und Hjøllo schlafen legten. Die Leute lasen es im Domus-Café, im Wartezimmer beim Arzt, im Lesesaal der Bibliothek, an der Bushaltestelle vor dem Rathaus. Wir lasen uns gegenseitig Auszüge vor, schnitten das Interview aus und legten es in eine Schublade, wir lachten und amüsierten uns tagelang, grinsten und wieherten. Die Leute konnten wochenlang wortwörtlich aus VG zitieren. Ja, es gibt wohl noch heute Menschen in Odda, die den größten Teil des Interviews auswendig aufsagen könnten.
Nun sollten wir einer einzigen Handlung nicht allzu viel Gewicht beimessen, aber es kursiert das Gerücht, dass Blondie, als Arvid an dem Abend nach einem kurzen Gang zur Toilette zurückkam, unter der Bettdecke lag. Ihr Gesichtsausdruck gab zu verstehen, dass sie eher nackt als angezogen war. Sie soll Arvid Lunde zugeflüstert haben: Wir können doch nicht den ganzen Abend über Odda reden. Lunde soll zurückgewichen sein. Ohne weiter über die Situation nachzudenken, stolperte er in den Gang, rannte die Treppe hinunter und auf die Straße. Dort schnorrte er eine Zigarette von einem zufälligen Passanten. Arvid Lunde drehte im Zentrum von Odda eine Runde, er rauchte und versuchte, den Kopf klarzukriegen. Odda war schnell abgelaufen, ein paar graue Straßen, die er in zehn bis zwölf Minuten durchkämmt hatte, ein typisch norwegisches Provinzstädtchen, nur mit diesem charakteristischen Geruch nach Karbid, Cyanid und Fabrikrauch. Viele haben behauptet, Odda wirke, aus der Luft betrachtet, wie das Geschlecht einer langbeinigen Frau. Die Fjordufer sind die Beine, die sich im mythischen Odda vereinen. Kommt man über den Sørfjord herein, tastet man sich an der Innenseite der Beine entlang, legt irgendwo eine Hand auf das Bein, arbeitet sich vor, liebkost die Knie, und wenn man nach Nå am Westufer oder nach Hovland am Ostufer gelangt, will man nur noch höher hinauf, will weiter, sich hineinpressen, jetzt gibt es kein Zurück mehr. So waren sie nach Odda gekommen, Könige und Kaiser, Direktoren und die Käufer von Wasserfällen. Sie bezahlten für die Beine und das Geschlecht, gaben Odda einen Klaps auf den Po: Wie wär’s mit einer Runde, Süße? Odda war eine Mutprobe, Odda war der Ort, an dem Knaben zu Männern wurden.
Arvid Lunde kam an einem Oktobertag im Jahr 1980 nach Odda, und eins der ersten Gerüchte, das über ihn in Umlauf gebracht wurde, lautete, dass er schwul sei. Das ist vermutlich der heftigste Vorwurf, dem man in Odda ausgesetzt sein kann. Blondie ließ kein Wort über den Kerl fallen. Sie erwähnte ihn kein einziges Mal, nicht einmal gegenüber ihren Freundinnen ließ sie etwas verlauten. Solange Arvid Lunde in Odda
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