Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
unterrichtet und war so sehr mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt, dass er sich kaum auf den Unterricht vorbereiten konnte. Die Schüler beschwerten sich erneut, was den Direktor in die Klemme brachte; er konnte schwerlich behaupten, gute Arbeit geleistet zu haben. Kaum waren die ersten Monate des Schuljahres vergangen, musste er das Kollegium mit einem neuen Lehrer verstärken, am liebsten mit einem, der umgehend anfangen konnte.
Dieser Lehrer war Arvid Lunde. Er wollte schon immer nach Odda, ihm gefiel seine Arbeit als Aushilfslehrer an einer Berufsschule in Hordaland nicht, und er freute sich über den Anruf von Direktor Brink. Er konnte sofort anfangen, er war ein guter Lehrer, er brannte für das Fach Geschichte und sprach fließend Deutsch. Die Schüler mochten ihn, vor allem gefiel ihnen, dass er sich so leicht vom Stoff abbringen ließ. Wenn sie tagesaktuelle Debatten anschnitten, war Arvid Lunde gleich dabei. In den Achtzigerjahren unterlagen die Schüler, genau wie die übrige Gesellschaft, einer Polarisierung. Zwischen den Linksradikalen und den Konservativen verlief ein breiter Graben, sie verteilten sich auf die zwei Seiten des Klassenzimmers mit einem Puffer aus neutralen Jugendlichen dazwischen. Die Neutralen waren trotz allem in der Überzahl, das gemeine Volk , wie der alte Direktor sie genannt hätte. In der Mitte saß die Mehrheit, die große Masse, die nie laut protestierte und selten in Erscheinung trat, die aber im entscheidenden Augenblick bestimmte. Ohne zu zögern, würden wir Arvid Lunde in dieser Kategorie ansiedeln. Es wurde behauptet, Lunde sei so anonym, dass er schon auffalle. An einem bestimmten Punkt sind Leute so unsichtbar, dass wir sie bemerken und anfangen, über sie zu reden, nicht wahr? Was treiben die eigentlich? Ist der Typ nicht merkwürdig? Was will der bloß hier?
In Odda konnten später viele berichten, wie anonym Lunde in den ersten Jahren tatsächlich gewesen war, aber dazu muss man sagen, dass solche Geschichten zum Heldenepos vom einfachen Mann passen, der aufstieg und es zu etwas Größerem brachte. Denn wenn ein Mensch aus der Unscheinbarkeit herausgehoben wird und der ganzen Nation bekannt ist, ändert sich auch seine Geschichte. Alles wird in einem anderen Licht gesehen, alles wird neu interpretiert. Das Jetzt stülpt sich über alles, was gewesen ist, wie ein zu enger Pullover, alte Fotos werden aus dem Album gezogen, Tratsch von Exgeliebten wird ausgebreitet, das Normale wird noch normaler, das Außergewöhnliche noch absurder. Und alles wirkt nachvollziehbar. Es musste ja so kommen. Haben wir es nicht gleich gesagt? Von Arvid Lunde kann man in jedem Fall sagen, dass er in seiner ersten Zeit in Odda kaum in Erscheinung trat.
Die vielleicht beste Geschichte stammt vom Gymnasium Odda, Arvid Lunde hatte damals schon fast ein Jahr dort unterrichtet. Eine Kollegin setzte sich in der Mittagspause neben ihn, hielt ihm die Hand hin und sagte: Wir kennen uns noch nicht, machen Sie gerade Ihr Referendariat? Arvid Lunde war aus dem Nichts gekommen, war in seinen Hochwasserhosen die Gangway der MS Granvin hinunterspaziert und weiterhin im Nichts verblieben.
Trotzdem gibt es einen Hintergrund, vor dem man diesen Teil der Geschichte sehen muss. In der Nacht zum 2. November 1980 wurde Ronald Reagan zum neuen Präsidenten der USA gewählt, und in den Wochen vor der Wahl brachte Arvid Lunde die Präsidentschaftswahl in den Geschichtsunterricht ein. Falls Reagan Carter schlagen sollte, hatte Arvid Lunde den Schülern erklärt, käme es zu einem klaren Bruch in der amerikanischen Politik. Dann würde eine konservative Welle mit Wurzeln in den jungen jüdischen Freidenkern der New Yorker Cafés über die USA hinwegschwappen und sich später im größten Teil der westlichen Welt ausbreiten. Das lag auf der Hand, meinte Arvid Lunde. Er versuchte, den Schülern eine gewisse Skepsis gegenüber Ronald Reagan und dem Marktliberalismus einzuimpfen. Er war der Meinung, die Konservativen führten die Armen hinters Licht, die Reichen würden noch reicher, Steuererleichterungen und der Mangel an Regulierungen träfen vor allem die Schwächsten. Es liege eine herrliche Ironie darin, sagte er, dass Reagan im Stockwerk über der lokalen Bank von Timlico, Illinois, geboren wurde.
Mehrere Elternpaare in Odda empörten sich darüber, dass der neue Lehrer im Unterricht politisch so klar Stellung bezog. Sollten Lehrer ihre Meinung nicht für sich behalten? Lunde seinerseits war der Ansicht, es
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