Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
den riesigen Parkplatz mit meinem Koffer auf dem Bauch. In dem Koffer ist nichts, nur das Fotoalbum mit den Bildern von dir, Marny. Ich schließe die Augen. Zuerst höre ich nichts. Nur das Rauschen des Windes. Dann höre ich die Geräusche aus dem Laden. Das Radio im Büro. Den Kopierer. Die Münzen auf der Theke. Die Kasse. Die Mikrowelle, die piept, ein Muffin ist fertig. Marny, komm und gönn dir eine Tasse Kaffee.
Komm am Sonntag
Die Hochwasserhose gab in der Dämmerung den Blick auf seine Beine frei, zwei weiße Birkenstämme, die an einem Oktoberabend 1980 die Gangway der MS Granvin herunterkamen. Ohne diese Beine wäre uns der Mann vermutlich gar nicht aufgefallen, er trug nämlich Karbidgrau, Anzug, Jacke und Schuhe bewegten sich auf der Skala zwischen Weiß und Schwarz. Fast schien es, als wollte er, kaum dass er an Land gegangen war, von diesem Ort verschluckt werden, eins werden mit dem Rauch, dem Regen und dem Nebel. Einige Kerle im Schmelzer zeigten aus dem Fenster auf ihn. Meine Fresse. Wo kauft der Typ seine Anzüge? Wartet er auf die Sintflut? Später sollte sich herausstellen, dass diese Hosen in gewisser Weise Arvid Lundes Markenzeichen waren. Handfester Gabardine, gute Qualität, nicht besonders teuer, aber mit Sicherheitsabstand zum Boden. Zwischen den hohen Bergen kam er im Rauch der Fabrikschornsteine wie ein Direktor oder ein Rotarymitglied daher. An jenem Sonntagabend verschwand Arvid Lunde mit einem schwarzen Koffer aus unserem Blickfeld, später erfuhren wir, dass er das Ding bis zum Sørfjordheim geschleppt hatte. An der Rezeption wurde er von Blondie empfangen, die ihm den Schlüssel für Zimmer 304 mit Blick über den Marktplatz und die Straßenkreuzung aushändigte. Wahrscheinlich roch es im Zimmer nach Staub, das gesamte Sørfjordheim roch damals nach Staub. Die Pension hatte keineswegs einen schlechten Ruf, aber die guten Zeiten in Odda waren vorbei, das war nun mal so. An den Wänden hingen Fotos von einem Provinzstädtchen mit Frauen in Trachtenkleidern und stattlichen Männern im Sonntagsstaat. Damals war Odda ein Touristenmagnet und zog reiche Leute aus dem In- und Ausland an. Hier wollten sie die norwegische Natur atmen und unten am Fjord Drinks in sich hineinkippen. Sie blieben weg, als sich Fabrikrauch über das Tal legte und Odda in neun Millionen verregnete Montage verwandelte. Arvid Lunde stand am Fenster und studierte sein neues Umfeld, als Blondie an die Tür klopfte und ihm ein zusätzliches Kissen brachte, um das er gebeten hatte. Er bedankte sich und machte sich daran, Kleider und Toilettenartikel auszupacken. Er schnappte sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, um das Gefühl von Einsamkeit zu übertönen, das sich in einer Pension in einer fremden Stadt unwillkürlich einstellt. Er schaute sich kurz die Sportnachrichten an, bevor er nach einem langen Reisetag zur Ruhe kam.
Ein paar Wochen später versuchte Blondie, ihn anzumachen. Das war sicher nicht besonders passend. Man konnte mit Gästen flirten, aber man sollte Logis und Leidenschaft nicht vermischen. Blondie mochte Arvid Lunde, er war in seinen zu kurz geratenen Hosen charmant und witzig. Er wies sie ab. So verlautete es jedenfalls aus der Gerüchteküche. Arvid Lunde hatte Blondie abgewiesen, und das machte sie wütend. Im Alter von 36 Jahren war Blondie durchaus noch eine scharfe Unterwasserklippe, die Männer mit voller Wucht rammten. Sie hatte hohe Wangenknochen, und ihr Gang war beeindruckend. Normalerweise suchte sie sich die Männer aus. Wer wollte ihr das verdenken? Das Sørfjordheim ist nicht gerade das Savoy , und Odda nicht der Nabel der Welt. Vielleicht langweilte sie sich nur. Vielleicht sehnte sie sich nach einer freundlichen Umarmung. Vielleicht war jeder Gast eine potentielle Fahrkarte weg von hier. Eine Pension in einem westnorwegischen Provinzstädtchen lädt schließlich regelrecht zu intimen Handlungen ein. An solchen Orten gibt’s nur Beischlaf oder Selbstmord. Womit sollte man sich sonst die Zeit vertreiben?
An einem Abend mit wenig Betrieb an der Rezeption war Blondie mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein vor Zimmer 304 aufgetaucht. Mögen Sie chilenischen?, fragte sie, als Arvid Lunde die Tür öffnete. Sie redeten über Gott und die Welt und über Odda. Er erzählte, dass die Wochen in der Pension für ihn nur eine Übergangslösung seien. Er warte auf den Umzugswagen aus Åsane bei Bergen, seine Vergangenheit sollte in eine Wohnung in Øvre Kalvanes
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