Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
verließ, sei ihm durchs Tal bis zum Gymnasium gefolgt, habe geduldig über dem Gebäude ausgeharrt, bis er mit der Arbeit fertig war, habe auf ihn herabgeregnet, wenn er zum Einkaufen zu Domus ging, habe sich über dem Café Merkur geöffnet, wenn er dort etwas aß. Der Tiefpunkt wurde in diesem Jahr bei der Weihnachtsfeier mit den Kollegen erreicht. Fräulein Mowinckel war für Arvid Lunde in die Bresche gesprungen, hatte dafür gesorgt, dass er eingeladen wurde, und hatte ihn intensiv bearbeitet, damit er kam, sie wollte, dass er sich zugehörig und aufgehoben fühlte. Solange er nichts Verbotenes getan hatte, gab es keinen Grund, ihn zu verurteilen. Der Abend verlief anders als geplant. Nachdem er ein paar Kurze in sich hineingekippt hatte, schlug der Sportlehrer vor, ein Spiel zu spielen, bei dem Filmtitel auf Zettel geschrieben wurden. Jeder Lehrer sollte dann pantomimisch darstellen, was auf dem von ihm gezogenen Zettel stand, damit die anderen den Titel erraten konnten. Das Problem war, dass die Schüssel rasch mit Filmtiteln gefüllt war von der Art: Der Lehrer auf der Bettkante , Gottes Geschenk an die Frau und Bend Over Boyfriend 2 . Als Arvid Lunde an der Reihe war, zog er folgenden Titel: Lust For A Vampire Virgin . Mit dem Zettel in der Hand blieb er zum Gespött aller wie gelähmt stehen.
Warum blieb er in Odda? Warum zog er nicht einfach weg? In Odda sind schon viele zugrunde gegangen, besser gesagt: Sie waren auf dem Weg nach unten, aber sie haben das Band vor der letzten katastrophalen Phase durchtrennt, sind den Gaffern und Schaulustigen entkommen. Erst später wurden die ganzen Geschichten erzählt, Geschichten von Leuten, die sich in Garagen fremder Städte erhängt hatten, die in Kopenhagen unter die Räder gekommen waren oder die ihr Auto an der E6 abgestellt und bei laufendem Motor einen Schlauch vom Auspuffrohr ins Wageninnere geleitet hatten. Als gäbe es in den Leuten einen Urinstinkt, als wären sie verletzte Elefanten, die weggingen, um zu sterben, die sich an Orte verzogen, an denen sie mit ihrer Niederlage allein sein konnten. Als wüssten sie: Individuen sind die einzigen Wesen, die etwas empfinden, Gruppen können nichts empfinden.
Für einen schwächeren Mann als Arvid Lunde wäre es garantiert das Ende gewesen, aber im Winter und im Frühling fiel den Leuten auf, dass Arvid Lunde angefangen hatte zu joggen. Sie sahen ihn im blauen Trainingsanzug den Jordalsveien entlanglaufen, sie sahen ihn nach Tyssedal joggen, nach Saga und hinauf zum Låtefoss-Wasserfall. Er legte den Weg zum Gymnasium joggend zurück und kam gesund und munter um 7:41 in die Schule, zehn Minuten früher als sonst. Immer schneller rannte er durch Odda, im Frühjahr war er schon um 7:38 in der Schule, dann um 7:37 und um 7:36, er duschte und setzte Kaffee auf, er war in der Form seines Lebens, mitten in der Joggingwelle der Achtzigerjahre, aber niemand hatte damit gerechnet, dass Arvid Lunde Teil dieser Bewegung werden würde. Sich die Zeit vertreiben, joggen, war das nicht was für Frauen? Es ist eine Obsession, sagte Arvid Lunde später im Interview über das Laufen. Zu sehen, wie weit man gehen kann, die äußersten Grenzen des Körpers auszutesten, der Körper ist dafür da, gefordert zu werden. Ich laufe im Einklang mit einer wichtigen Regel: Du sollst nicht gehen. Fängst du an, dich durch die Gegend zu schleppen, ist vieles gelaufen, physisch wie psychisch. Ich bin es leid, dass so viele Leute durch das Leben trotten. Aufgeben war noch nie meine Art.
Den Kollegen fiel überdies auf, dass der Mann angefangen hatte zu singen, als wüsste er etwas, wovon wir nichts wussten. Lief er tatsächlich singend durch die Flure? Und ob er das tat! Er sang keine bestimmten Lieder, er summte Melodien, wie es Väter oder Onkel taten, wenn sie Reifen wechselten oder den Keller aufräumten, er sang so, wie Leute sangen, die signalisieren wollten, dass sie die Kontrolle hatten, dass alles wie geschmiert lief, alles in bester Ordnung war. Arvid Lunde sang vor sich hin, wenn er morgens Kaffee kochte, er sang vor sich hin, wenn er im Telefonzimmer saß, er sang vor sich hin, wenn er durch die Schulkorridore lief. Er sang sich durch Regen und Hagel, durch Februar, März und April. Wir beobachteten den Kerl aus der Distanz und hätten viel gegeben, um einen Schnitt durch seinen Schädel machen zu können und zu sehen, was darin vor sich ging. Hatte er Lust auf einen Tritt in den Hintern? Begriff er nicht, welche Rolle ihm
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