Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
wir hier von biographisch inspirierter Belletristik sprechen müssen, bei der der Autor mit Hilfe seiner Phantasie ein echtes Treffen zwischen zwei Personen beschreibt. Das hier war expressive Prosa, eine Stilrichtung, bei der sich der Autor in nichts zurückhielt ( Ihre herlichen Pobacken lukten unter dem Stuhlrücken hervor und leuchteten wie zwei Monde am Himmel ). Die Handlung, die Liebkosungen und die Stimmung wurden im Detail skizziert ( Sein Finger kizelte sie unter dem Höschenbund, ohne das er um Erlaubnis gefragt hatte ). Die Briefe waren in Odda abgestempelt und gingen anfangs an Direktor Brink, den Gewerkschaftsführer und Bürgermeister Stensland. Die drei Stützen der Gesellschaft versuchten mit aller Macht zu verhindern, dass die Geschichte ans Licht kam, das würde die Situation für die arme Ingrid nur verschlimmern, doch die Briefe waren viel zu aufsehenerregend, sie enthielten alles, was auf die Lokalbevölkerung erregend wirken konnte. Die Schilderungen des anonymen Pornographen wurden sowohl lauthals vorgelesen als auch in stillen Minuten verschlungen, sie wurden von Kichern oder lautem Stöhnen begleitet: Nein, ich kann nicht mehr! Hör auf! Hör doch mal! Nur ein bisschen noch! Unten im Schmelzer lasen wir die Briefe und erröteten vor Scham, wir hielten uns die Bäuche vor Lachen, denn die Schilderungen sich bewegender Geschlechtsorgane gingen mit dermaßen rudimentären orthographischen Kenntnissen einher, dass sie fast lebensgefährlich komisch wurden. Gott, haben wir beim Lesen gelacht ( Sein Schwanz war klein und pyggmähenhaft, aber dann oho ), wir feixten und kicherten ( Ihr Finger bewegte sich tief in seiner Leiste ), wir wieherten und glucksten, als Ingrids Geschlechtsorgan beschrieben wurde ( die glühend heiße Tierpension ), wir brüllten vor Lachen, als wir Arvid Lundes Männlichkeit präsentiert bekamen ( Der Schwantz im Hosenlatz schrie: Ich bin heiß! ).
Lunde selbst soll von den Briefen nichts gewusst haben, bis Ingrid eines Nachmittags nicht zur Nachhilfe erschien. Er lief im Keller auf und ab, wo war Ingrid, war etwas passiert, war sie krank, war es vorbei? Die Antwort erhielt er, als Ingrids Vater groß und breit in der Tür stand. Ich werde Sie vernichten, sagte der Gewerkschaftsführer. Im Gymnasium stellte Direktor Brink ein Komitee zusammen, das ein Verhör unter Ausschluss der Öffentlichkeit ansetzte, um in Erfahrung zu bringen, was tatsächlich im Keller in Øvre Kalvanes vorgefallen war. Das Komitee sollte sich auch konkrete Maßnahmen ausdenken, wie die Situation zu handhaben sei. Was, abgesehen von einem puterroten Arvid Lunde, bei diesen Verhören herauskam, ist nach wie vor nicht ganz klar. Arvid Lunde soll zwar vehement protestiert haben, er habe Ingrid Nachhilfestunden gegeben, aber zu keinem Zeitpunkt Handlungen von der Art begangen, wie sie in den Briefen geschildert wurden. Dennoch beschloss Direktor Brink, Lunde als Klassenlehrer der 2c abzusetzen, Lunde sollte Ingrid außerdem in keinem einzigen Fach mehr unterrichten. Weitere Strafmaßnahmen wurden dem skandalgebeutelten Lehrer nicht auferlegt. Es erfolgte auch keine Anzeige bei der Polizei, da nichts Verbotenes vorgefallen war. Arvid Lunde konnte zwar nicht von einem Gericht verurteilt werden, doch die Lokalbevölkerung hatte in Windeseile ihr Urteil gefällt, er habe sich unethisch, unmoralisch und unverantwortlich verhalten.
Erst Wochen später ließen manche durchblicken, dass in dem Fall keinerlei Beweise vorlagen, nur Gerüchte und ein paar erbärmlich formulierte Briefe. Wer hatte die Briefe geschrieben? Warum wurden sie an den Bürgermeister und an den Direktor geschickt? Was mochte das Motiv sein? Vielleicht wurde Arvid Lunde nur dafür gehasst, dass er jemanden liebte? Ganz Odda beteiligte sich an den Spekulationen darüber, wer hinter den Briefen stand. Viele vertraten den Standpunkt, dass es sich um einen asozialen Schulverlierer handeln müsse. Andere wiederum gingen davon aus, dass es eine äußerst gewiefte Person sei, die absichtlich fehlerhaft schrieb. Die Norwegischlehrer am Gymnasium fanden die Briefe sogar unter stilistischen Gesichtspunkten interessant, sie enthielten faszinierende Neuschöpfungen ( unsere schwanzfixierte Kultur , oder: Sie erregte ihn wie ein Tag im Mai ). Es gab schöne Metaphern für Geschlechtsorgane ( Werkzeugkiste, Gurkensalat, rosa Paradies ). Sie fanden geglückte Beispiele für Alliterationen (geil und groß) und Beseelungen ( Eine rumorende samtige Lawine
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