Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)

oben. Alle in Odda, die Arvid Lunde kannten, meinten, er hätte den Wink verstehen müssen, aber er war in eine andere Frau verliebt, das war der Punkt. Er ist hoffnungslos verliebt, sagten die Leute. Der Mann war sich nicht einmal selbst darüber im Klaren. Die Schüler in der Klasse begriffen es früher als er. Wie konnten sie es wissen? Tja, eine Klasse weiß so etwas, sie erkennt es daran, wie sich der Lehrer die Haare zurückstreicht, sie hört es an den Worten, die er wählt, an seinem Atem, der schneller geht, am Tonfall, der zu stark variiert. Sie erkennt es am Geruch des Aftershaves. Sie sieht es an seinen neuen Hemden. Sie sieht es an der Art, wie er sich ans Lehrerpult setzt und wie er wieder aufsteht. Ein verliebter Mann.
    Wie heißt sie? Ingrid. In jeder Klasse der Welt gibt es eine Ingrid, eine, die siebzehn ist, ein hübsches Gesicht und einen Körper mit schönen Kurven hat, alles an Ingrid ist neu und unverbraucht, eine strahlende Tochter. Nach allem, was wir wissen, hat ihr Vater Arvid Lunde angerufen und gefragt, ob er seiner Tochter Nachhilfe in Deutsch und Geschichte geben könne. Arvid Lunde hatte geantwortet, das könne er leider nicht, die Eltern sollten sich eventuell an die Konrektorin wenden und sie um Förderunterricht bitten. Der Vater ließ sich nicht abwimmeln und suchte Arvid Lunde zu Hause auf, es müsse doch möglich sein, ein paar Nachhilfestunden zu geben? Arvid Lunde wurde klar, dass der Mann für seine Tochter große Ambitionen hegte, so große Ambitionen, wie nur ein Mann ohne Ausbildung sie hegen konnte. Der Kerl war ihm aus der Politik bekannt. Ingrids Vater war in der Oddaer Arbeitnehmerbewegung bis an die Spitze geklettert, und jetzt wollte er, dass seine Tochter den großen Schritt machte und den sozialen Aufstieg vollendete. Arvid Lunde betonte, dass es ethisch nicht vertretbar sei, wenn er einer einzelnen Schülerin in der Freizeit Nachhilfe gab. Dennoch empfing er Ingrid jeden Mittwochnachmittag in Øvre Kalvanes. In der Kelleretage, neben der Yuccapalme, erhielt sie nun ethisch verwerflichen Unterricht in Deutsch und Geschichte. Als die Sache später in Odda bekannt wurde, spekulierten die Leute darüber, warum Lunde nachgegeben und der Tochter des Gewerkschaftsführers Nachhilfe gegeben hatte. Wir waren ziemlich überrascht. War er so verliebt, dass er vergessen hatte, auf seine innere Stimme zu hören, und sich von etwas leiten ließ, das mit Ethik nichts zu tun hatte? Oder tat er es, um sich mit einer der wichtigsten Lokalgrößen gutzustellen?
    Wie dem auch sei, wir malten uns in allen Einzelheiten aus, wie es ablief: Jeden Dienstagabend bügelt Arvid Lunde seine Hemden. Wischt Staub. Backt Kekse. Betrachtet sich im Spiegel. Studiert sein Profil. Prüft, wie die Haare in die Stirn fallen. In der Nacht auf Mittwoch findet Arvid Lunde keinen Schlaf, Mittwoch ist Ingrid-Tag, Arvid Lunde flüstert ihren Namen ins Kissen: Ingrid, Ingrid, Ingrid . Jeden Mittwochnachmittag spricht er über den amerikanischen Bürgerkrieg, erzählt vom Attentat von Sarajevo, spickt das Ganze mit deutschen Vokabeln, Sebastian hat eine Tante in Freiburg . Arvid Lunde registriert jedes Körperteil seiner Schülerin, die Knochen im Körper, die in einer idyllischen Hülle stecken. Zunächst hilft Arvid Lunde ihr, die Kings-Bay-Affäre zu verstehen, anschließend hilft er ihr beim Ausziehen der Kleider. Alle kennen die Geschichte, hier folgt sie noch einmal: Arvid Lunde, der sein 32 Jahre altes Geschlechtsteil in ihr 17 Jahre altes Geschlechtsteil einführt. Die beiden, die zusammen einen Rhythmus finden, verbotene Liebe zwischen hohen Bergen. Eine, die Nachhilfestunden braucht, einer, der Hautkontakt sucht. Es durfte nicht passieren, es sollte nicht passieren, Arvid Lunde hätte es besser wissen müssen, sie hätten zumindest dafür sorgen müssen, dass es zwischen ihnen blieb. Dann hätte sie mit roten Wangen Øvre Kalvanes verlassen und mit Unschuldsmiene zu Hause eintreffen können: Wie war es? Gut. Er hätte sich die Zähne putzen können, zitternd und sehnsuchtsvoll, erfüllt von Ingrid, erfüllt von Lust, aber alles wäre zwischen zwei erwachsenen Menschen geblieben. Anfang Oktober 1983 begannen in Odda plötzlich anonyme Briefe zu zirkulieren. Jemand hatte in eine alte Schreibmaschine gehämmert:

    Damit nicht genug, der anonyme Briefeschreiber hatte sich vorgenommen, jeden Mittwochnachmittag in Øvre Kalvanes im Detail zu schildern. Der Betreffende war wohl kaum selbst zugegen, so dass