Ein ehrliches Angebot: Roman (German Edition)
hatte sich in ihr aufgebaut ). Wenn nicht gerade ein Lehrer und eine Schülerin involviert gewesen wären, hätten sie die Briefe im Unterricht einsetzen können. Denn was macht literarische Qualität aus? Worin besteht das ethische Dilemma, wenn real existierende Personen vorkommen? Die Texte waren von einer faszinierenden Kraft und einer performativen Stärke. Trotzdem waren sich alle einig, dass der Briefschreiber ein Mensch sein musste, der Arvid Lunde hasste. Denn während Ingrid als schön und unschuldig beschrieben wurde, kam Arvid Lunde ziemlich schlecht weg ( Er holte seine ollen Eier aus dem Slip, sie sahen aus wie schlaffe Seemänner ).
Arvid Lunde war nicht der Erste und wird garantiert auch nicht der Letzte sein, der in die Fjordeinsamkeit katapultiert wurde. Allein nach Hause gehen, allein durch den Regen gehen, hinauf in eine kalte Kellerwohnung. Essen kochen. Die Zeitung lesen. Fernsehen. Die Zähne putzen. Den Fernseher ausschalten. Ins Bett gehen. Dieser Tag ist vorbei. Die Nacht kommt. Was passiert morgen? Kurz vor sieben aufstehen, um 7:51 bei der Arbeit sein. Kaffee kochen, die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite lesen. Jeden Satz im Hardanger Folkeblad lesen, über Vereinsmeisterschaften in Leichtathletik, Lachsläuse, über das Gemeindewappen, das an der Rathausfassade angebracht werden soll. Dienstage und Donnerstage sind am schlimmsten, denn das Volksblatt erscheint nur dreimal in der Woche, so dass es an diesen Tagen keine aktuelle Zeitung gibt, in der man sich vergraben kann. Durch die Flure laufen, in denen alle deine Bewegungen verfolgt werden. Die Leute hinter deinem Rücken tuscheln hören. Alles wiederholen, Woche für Woche, und dann das Ganze wieder von vorn, nur mit etwas weniger Begeisterung. Wir haben alle schon harte Zeiten erlebt, etwas Besonderes ist passiert, ein Unglück aus heiterem Himmel, wir gehen zu Boden, wir gehen unter, aber wir haben auch eins gelernt: Egal, was wir tun, die Welt bleibt nicht stehen. Nichts ändert sich, auch wenn die Dinge um uns herum plötzlich anders sind. Aber nichts bleibt stehen, die Leute genehmigen sich einen Drink, legen sich selbst Steine in den Weg, hüpfen mit den falschen Leuten ins Bett, verspielen auf der Trabrennbahn ihr Geld, trinken sich um Haus und Hof, die Leute machen weiter und weiter bis zum letzten Seufzer. Selbst dann bleibt nichts stehen. Die Zukunft sieht aus wie die Vergangenheit. Die Vergangenheit spielt Klavier im Zimmer über dir, im Nachbarzimmer, draußen im Hof, aber du bist nicht dabei. Die Oddaer sahen Arvid Lunde durch die Straßen laufen, die Treppe zum Gymnasium hochsteigen, nach Hause gehen, als wäre er ein unbekannter Dritter, ein Strohmann für ein anderes Leben. Die einzige Kollegin, die der frostigen Stimmung im Gymnasium trotzte, war Fräulein Mowinckel. In der Mittagspause setzte sich die Konrektorin trotzig neben Arvid Lunde. Sie bat ihn im Plenum um fachlichen Rat, half ihm beim Kaffeekochen am Morgen. Das hatte zur Folge, dass sie nicht zum traditionellen Adventspunsch eingeladen wurde, bei dem Direktor Brink seine ergebensten Mitarbeiter zu Hause empfing. Zu ihnen hatte Fräulein Mowinckel seit 1974 gehört, zumal sie einsam und Jungfrau war, wie es Direktor Brink im Gespräch mit seiner Frau so elegant ausdrückte. Fräulein Mowinckel einzuladen war eine philanthropische Geste, zu der sich der Direktor nahezu verpflichtet fühlte. Aber Fräulein Mowinckels offene Verbrüderung mit Lunde hatte zur Folge, dass sie ebenfalls auf der schwarzen Liste des Direktors landete. Direktor Brink sagte nichts zu seiner Frau, nahm einfach die Einladung aus dem Stapel und warf sie in den Mülleimer. Als die Direktorengattin beim Zählen der Gäste feststellte, was passiert war, rief sie Fräulein Mowinckel an und fragte, ob sie nicht doch kommen wolle, es sei natürlich sehr kurzfristig, aber es sei ein Versehen, dass sie nicht eingeladen war. Fräulein Mowinckel sagte, sie freue sich außerordentlich über die Einladung, doch genau an diesem Weekend habe sie andere Pläne. Fräulein Mowinckel benutzte konsequent das Wort Weekend, und die Kollegen hatten den Eindruck, sie fände Wochenende zu gefährlich und zu vulgär.
Im Interview erzählte Arvid Lunde später, dass in diesen Monaten eine schwarze Wolke über seinem Kopf gehangen habe. Er ging nicht näher auf die Sache ein, sagte aber, die Wolke habe über seinem Haus gehangen, während er schlief, habe auf ihn gewartet, wenn er am Morgen das Haus
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