Ein Ende des Wartens
Annika komplett durchdrehte, wie sie es bei ihrer Mutter im Alter von sechzehn getan hatte?
In diesem Moment ging Annika ein Licht auf, das sie noch vor Stunden für so unrealistisch hielt, dass sie jeden, der es vorgebracht hätte, auslachen würde. Doch nun, nach all den Gedanken und der neuen Ordnung in ihrem Kopf, die wie durch eine Wunderhand geschehen war, wirkte alles klar und durchsichtig. Was, wenn sie Marco so sehr mit ihrer Geschichte um ihre Mutter zugesetzt hatte – und sie hatte wahrlich oft davon erzählt, eigentlich immer, wenn es zu seinen oder ihren Eltern ging –, dass er sich Sorgen darüber machte, wie er ohne größere Kämpfe aus der Beziehung herauskam. Ohne sie in den Wahnsinn zu treiben – und ihn gleich mit.
Diese Gedanken drehten sich in Annikas Kopf von der einen zur anderen Seite, und obwohl sie sich bei dem manifestierenden Konstrukt immer sicherer wurde, dass es der Wahrheit am nächsten kam, so hatte sie auch hin und wieder Momente, in der sie dieses Konstrukt mit einer Idee einriss, einfach so, ohne Grund, ohne zu verstehen, warum sie das tat.
12
So merkte Annika gar nicht, wie lange sie an dieser Stelle am Strand stand, doch als sie aus ihrer gedanklichen Traumwelt aufwachte, spürte sie ihre Glieder kaum noch. Sie stand zwar weiter im Sand und blickte aufs Meer hinaus, doch vor allem ihre Arme und Beine waren ob der Kälte, die durch ihren Körper kroch, steif geworden. Vorne am Horizont zeichnete sich auch bereits der erste Streifen der heraufziehenden Morgendämmerung ab, und Annika beschloss, in die Richtung zurückzugehen, in der sie Tammy vermutete.
Die Glieder brannten bei jedem Schritt, und als es begann, sich anzufühlen, als würde durch ihre Muskeln eine Flüssigkeit mit heißen Nadeln fließen, rieb Annika über ihre Oberschenkel, ohne dabei anzuhalten. So langsam gewann sie die Selbstsicherheit im Gehen zurück, knickte nur noch einmal auf einem kleinen Sandhügel zur Seite, ohne sich ernsthaft zu verletzen und suchte mit ihrem Blick über den Strand nach ihrer Freundin, die sich bisher auch nicht bemerkbar gemacht hatte. Wie und warum ihr die Vorstellung durch den Kopf ging, dass Tammy einfach aufgestanden war, um sich aus dem Staub zu machen, konnte sie sich nicht erklären.
Bald auch schon sah sie Tammys Umrisse auf dem Sandboden liegen. Unter den Decken zeichnete sich ab, dass sich Tammy auf die Seite gelegt hatte – mit dem Gesicht in die andere Richtung blickend. Als Annika Tammy erreichte, sie umrundete und zu ihr hinkniete, bemerkte sie den gleichmäßigen Atemrhythmus und dass Tammy die Decke bis an die Nase hochgezogen hatte. Nur die Augen und die Haare waren in dem inzwischen deutlicheren Dämmerlicht zu sehen, und da ihre Freundin friedlich schlief, setzte sich Annika neben sie und ließ sie weiterschlafen.
Durch das Stapfen im Sand war ihr inzwischen etwas wärmer, doch über den Boden drang die Kälte zurück in ihren Körper. Sie überlegte kurz, Tammy zu wecken, um eine von den Decken zu bekommen, doch dann entschied sie sich, aufzustehen, um im Auto nachsehen zu gehen, ob sie nicht noch eine Decke fand.
Der Weg zurück war nun deutlich leichter, da sie viel mehr Schattierungen im Dunkel erkennen konnte. Sie erreichte den Mercedes und musste nicht lange suchen, um eine wollene Decke im Kofferraum zu finden, die sie irgendwann einmal dort deponiert hatte. Es dauerte eine Weile, ehe ihr in den Kopf kam, dass sie das damals getan hatte, falls Marco auf irgendeiner Fahrt im tiefsten Winter in eine Vollsperrung geriet und auf der Autobahn übernachten musste.
Erstaunlicherweise vermochte es Annika in diesem Moment den Gedanken an Marco aus ihrem Kopf zu verbannen, schloss den Wagen ab und ging über den schmalen Weg zurück zum Strand, an dem Tammy weiterhin ohne jedwede Regung im Sand lag.
Annika breitete die Decke in Tammys Rücken aus und setzte sich darauf, zog wie zuvor auch schon ihre Beine an sich heran und umschlag die Schienbeine mit ihren Armen. Den Kopf zwischen die Knie legend blickte sie auf das Meer hinaus und ließ ihren Blick in die beinahe gleichförmigen Wellen sich verlieren.
Warum waren Marco und sie eigentlich nie ans Meer gefahren? Und warum hatte sie nicht mal den Urlaubsort ausgesucht, sondern sich ihm und seinen Wünschen immer angepasst? Das, was er machen wollte, hatten sie gemacht, dorthin, wo er hin wollte, dorthin fuhren sie in den Urlaub. Immer waren es anstrengende Urlaube, mit vielen Wanderkilometern,
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