Ein Engel an Güte (German Edition)
zerstreut zu den niedrigen Fensterchen der Gefängnisse schweifte. Er erbebte am ganzen Leib, und dieses grauenhafte«nie mehr»bohrte sich noch tiefer in sein Herz wie ein glühender Nagel. Wie sehr der Gedanke an einen nahen Tod von gemeinen irdischen Belangen zu läutern und über sie zu erheben vermag, das wissen nur jene, die von der Natur einmal an diesen Punkt geführt und von ihr auch wieder zurückgeholt worden sind. Es ist, als teile die reine, über den letzten Augenblick gebreitete Atmosphäre den menschlichen Empfindungen etwas von ihrer Göttlichkeit mit, weshalb alle verirrten Seelenkräfte wieder ihren Platz einnehmen, verkannte Objekte ihr wahres Aussehen wiedergewinnen und der Intellekt sich seine Klarsicht zurückerobert. Und nichts kann tief greifendere Wandlungen erfahren als die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die, auf ihren wahren Grund zurückgeführt, oft das Gute in dem erweist, was zunächst böse erschien, und umgekehrt das Böse in dem, was als unbeschwertes und beneidenswertes Geschick erschien. Starke Seelen spüren dann, wie sich, was bloß schwache Überzeugung oder vage Hoffnung gewesen war, in festen Glauben und unbezwingliches Begehren verwandelt, so dass allein dieser Aufschwung, der sich in der Todesstunde vollzieht, als Beweis für ein künftiges Leben gelten könnte.
Entschlossen, es mit dem alten Widersacher 114 aufzunehmen (er wusste, welche Strafe auf Hochverrat stand), entschlossen, sich freiwillig den Gefängnissen der Inquisition auszuliefern, um nicht Feigling und Verräter gescholten zu werden, hatte Celio sich seit dem Vortag mit dem Gedanken an seinen nahen Tod vertraut gemacht. So hatte seine Liebe, die schon länger mit den Sitten der Zeit im Streit lag und doch unbewusst stets nach höherer Reinheit strebte, im Angesicht dieses allerhöchsten Prüfsteins, welcher der Tod ist, sich selbst mit einem Mal voll und ganz erkannt. Aus ihren irdischen Verstrickungen gelöst, war seine Seele nunmehr empfänglich für das Licht der ewigen Liebe, und da begriff Celio, von welcher Art Liebe sein muss, um Tugend heißen zu dürfen; er begriff die heilige Süße dieser Verwandtschaft der Geister, die unvergänglich ist; er begriff die erneuernde Kraft dieser Geistesverwandtschaft, wenn sie zur Grundlage von Familie und Gesellschaftsordnung wird. All das sah und empfand er in einem einzigen Augenblick; doch das Paradies, das sich da in strahlendem Lichte vor ihm auftat, verfinsterte sich alsbald wieder unter dem Schleier dieses unausweichlichen«nie mehr»!
« Nie mehr! Nie mehr!», wiederholte er bei sich, die Stirn gegen eine Säule der Loggia gepresst. « Nie mehr...! Aber warum denn?», fragte er sich dann.«Wäre es denn ein Verbrechen, wenn ich hinginge, um aus ihren Augen Seligkeit, aus ihren Worten noch einmal Trost zu schöpfen? Gewiss nicht. Würden ihre Tränen mich vielleicht ins Wanken bringen? Das würden sie nicht. Und dann, ach: Morosina ist ja viel großherziger und viel gefestigter als ich! Sind also diese Furcht und diese Weigerung, je wieder einen Fuß in den Palazzo Formiani zu setzen, nicht kindisch? Ja, wahrhaft kindisch! Sollen die Dummköpfe doch sagen, was sie wollen – habe ich nicht mein Gewissen? Mein reines Gewissen, das aus meinem Herzen sprechen und von meiner Stirn abzulesen sein wird, zwischen den beiden Säulen dort...? Meinen Geist, der weiterleben wird, dessen bin ich mir gewiss, in neuen Freuden und in neuer Seligkeit...? »
Diese Überlegungen beanspruchten nicht mehr als zwei Minuten, zweimal war er unterdessen zur Treppe gelaufen, und jedes Mal war er wieder umgekehrt, seinen ursprünglichen Vorsatz bekräftigend. Beim dritten Mal setzte er den Fuß auf die oberste Stufe; und als er nun nach reiflicher Überlegung den ersten Schritt getan hatte, da eilte er die anderen im Fluge hinab. Schnurstracks lief er zur Piazzetta, warf sich in eine Gondel und rief:«Mit vier Rudern zum Palazzo Formiani!»Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen, wie um zu sagen:«Urteilen könnt ihr über mich zum Schluss!»
In zehn Minuten war er beim Palazzo des Inquisitors angelangt, und ohne die Diener zu bemühen, flog er die Treppe hinauf, so selig, als eilte er zum ersten Liebesstelldichein, dabei war es vielleicht das letzte. Freude und Reinheit der Seele strahlten aus seinem Gesicht, als er Morosinas Zimmer betrat, und da er sie kniend in ihrem Betstuhl fand, warf er sich vor ihr auf die Knie.
Die Arme wandte sich ihm zu, blass und
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