Ein Engel an Güte (German Edition)
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Ohne eine Antwort zu geben, öffnete die Zofe die Fensterläden, indem sie sie heftig gegen die Hauswand knallte, riss die Vorhänge auf, wobei eine Quaste abging, dann trat sie zu Morosina ans Bett, die Tränen liefen ihr herunter, und es war nicht klar, ob aus Wut oder Schmerz.
« Nun komm, sag schon, was hast du denn?», wiederholte diese.
« Es ist, es ist», erwiderte Moretta,«wenn sie ihn nicht auf der Stelle freilassen, geh’ ich und stürz’ mich geradewegs in den Kanal.»
« Um Himmels willen, was sagst du denn da?», versetzte Morosina.«Niemals darfst du so hässliche Dinge denken, mein Herz, denn Gott will nicht, dass wir an ihm irrewerden. Komm... vertrau dich lieber mir an! Wer weiß ...»
« Ja, ja, mich Ihnen anvertrauen...! Aber Sie werden Seine Exzellenz doch nicht jeden Tag mit derselben Leier langweilen wollen!»
« Ach Unsinn – geht es immer noch um den Verehrer von Adriana?»
« Nein, es geht um den meinen...!», entgegnete Moretta mit einem lauten Aufschrei.«Und an ihm selbst würde mir ja eigentlich gar nicht so viel liegen, sehen Sie, aber wenn man bedenkt, dass ihm dieses Unglück durch meine Schuld widerfahren ist...! Das ist wirklich zum Heulen...! Hu, hu!»
« Aber was ist denn passiert? Was ist deinem Freund denn zugestoßen?»
« Man hat auch ihn ins Gefängnis gesperrt! Hu ... hu, hu!»
« Ihn auch ...? Darf man erfahren, was er verbrochen hat?»
« Ja, ich habe es erfahren, er selbst hat es mir ausrichten lassen; und zwar musste er um elf aufbrechen, wenn er zu mir wollte, sein Dienst ging aber bis Mitternacht, und so ist er beim dritten Mal erwischt worden, und jetzt büßt er dafür, muss Kälte essen und Hitze trinken.»
Und wieder begann das Mädchen zu weinen.
« Komm, komm, man soll sich nicht unnütz aufregen!», sagte Morosina zu ihr.«Das Vergehen ist ein geringes, und gering wird auch die Strafe sein. Weißt du was, ich werde auch für ihn bei Seiner Exzellenz ein Wort einlegen, heute Morgen, bevor er in den Senat geht. Ja, trag Martino auf, dass er mir Bescheid geben soll, wenn der Pate aufgestanden ist.»
« Jawohl!», antwortete Moretta und ging aus dem Zimmer, sich mit dem Schürzenzipfel die Augen wischend.
Morosina erhob sich vom Bett und dachte an diese beiden losen Dinger, die sich aber doch so sehr um ihre Liebsten grämten; bei ihrer geringen Kenntnis des menschlichen Herzens musste ihr das wohl recht seltsam erscheinen, was es aber nicht ist; die Mehrzahl der venezianischen Frauen ist so beschaffen, wie Lord Byron bezeugt, der es aus eigener Erfahrung wusste: 89 Ihre Art ist Folge einer angeborenen Güte, der kein Sittenverfall etwas anhaben kann. Sie dachte also an Adriana und Moretta, dann an ihren Vater; und fast wollte sie schon rasch in sein Zimmer eilen, doch dann erinnerte sie sich, dass er erst um zwei Uhr nachmittags aufzustehen pflegte, und ließ es bleiben. Schließlich holte sie ihr Petrarca-Bändchen hervor, lehnte sich damit lesend an die Fensterbrüstung und überflog zwei oder drei Sonette, solche, die ihr durch Innigkeit des Gefühls oder jungfräuliche Keuschheit am vertrautesten waren; dann vergaß sie Petrarca, und eine andere Liebe als die Lauras, eine Liebe, an der sie, so mannigfach sie auch abgelenkt sein mochte, im Innersten ihrer Seele beständig festhielt, lenkte ihre Blicke vom Himmel weg und hinab auf die dunklen Fluten des Kanals. So stand sie in köstlicher Verzückung da, als sich ihren Blicken ganz in der Ferne, fast beim Rialto, eine Gondel zeigte, die langsam in ihre Richtung ruderte. Die Luxusgesetze schrieben, ausnahmsweise einmal nicht vergebens, ein einheitliches Aussehen der Gondeln vor; trotzdem sah sie, fühlte, ahnte oder hoffte sie, diese eine möge etwas Lieberes, Kostbareres bergen als die hundert anderen, die Stunde um Stunde vorüberfuhren, und konnte die Augen nicht mehr von ihr wenden. Als die Gondel in der Nähe des Palazzos angelangt war, kam eine Hand zum Vorschein, und da, ein Kopf schaute aus dem Fenster.« Wusste ich es doch!», murmelte das Mädchen errötend, obwohl sie ganz allein im Raum war.
Ein verstohlener Kuss wurde von der Gondel zum Balkon des Mädchens heraufgeworfen, und dann wandte dieser Kopf sich eine Weile lang immer wieder um; schließlich verschwand die Gondel, und im selben Augenblick kam Moretta herein und gab Bescheid, dass Seine Exzellenz im Aufbruch sei.
« Ich komme, mein Kind!», antwortete Morosina, die an diesem Morgen doppelt zur Güte aufgelegt war.
Auf
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