Ein Engel an Güte (German Edition)
und wulstig aufgeworfenen Lippen, die niedrige, gefurchte Stirn sowie die vorspringenden und rastlosen Augen ließen eine rohe Natur und die Borniertheit der Ansichten erkennen. Mittlerweile hatte die patrizische Trägheit, womit seine Frau ihn angesteckt hatte, jeden Rest von Draufgängertum aus dieser Visage getilgt, das er in der Jugend vielleicht mehr zur Schau gestellt als wirklich besessen haben mochte. Wie wir wissen, war er steinreich, und da man damals mit Gold alles vermochte, hatten sich schon früh all die missgünstigen, zornigen und unzufriedenen Elemente des Provinzadels um ihn geschart, und diese schäbigen Gefühle verrührte er zu einer einzigen Empfindung des Hasses und schürte diesen zu eigenen Zwecken, in der Hoffnung, eines Tages vielleicht aus dessen Ausbruch oder auch aus dessen Eindämmung Nutzen ziehen zu können.
So sehr er im Übrigen am Beginn seines politischen Wirkens aus jugendlicher Prahlsucht oder aufgrund von Erinnerungen an jüngst erlittenes Unrecht der ersten Haltung zuneigte, so sehr tendierte er später entweder aufgrund schwindenden Muts oder dank der Einflüsterungen der Gräfin zur zweiten. Und gar jetzt, da sie ihm durch die Verheiratung der Tochter mit einem Marcoligo und durch die Nicolettos mit einer Canean Hoffnungen machte, einen Platz im Goldenen Buch einnehmen zu können, hätte er gewiss bereitwillig im Guten oder im Bösen mit diesen einstigen Gefährten gebrochen, wären da nicht auch von dieser Seite böse Überraschungen zu befürchten gewesen. Die paar philosophischen Leitgedanken, die Sekten gewöhnlich zu ihrem Credo erheben und die nur von Neulingen oder Eiferern für bare Münze genommen werden, waren in seinem Kopf nie herumgespukt; und wenn er vor Jahren gehofft hatte, durch einen gewaltsamen Umsturz an die Macht zu kommen, hätte er es nun für verrückt gehalten, an diesen gefährlichen Bestrebungen festzuhalten, wenn sich ihm durch Stimmenkauf, die Aussetzung einer Mitgift oder durch Aufnahme einer bleichen, schiefgewachsenen Schwiegertochter in die Familie ein so viel einfacherer Weg bot, einen kleinen Anteil an der Herrschaft zu ergattern. Gleichgesinnten gegenüber, deren er in Venedig viele fand, machte er aus diesem Gesinnungswandel kein Hehl, und dort bekannte er sich auch lautstark zu den neuen Prinzipien, woraus ersichtlich wurde, dass er bald mit Würde den Posten jener bekleiden könnte, deren Zaudern und Nachgiebigkeit er vor zehn Jahren so sehr gescholten hatte. Begegnete er jedoch jemandem, dessen feste und unwandelbare Gesinnung ihm bekannt war, so legte er diese zweite Maske ab und setzte wieder die erste auf; und so bestand seine Taktik darin, bei den Löwen Löwe, bei den Füchsen Fuchs zu sein.
All das hätte wunderbar hingehen können, wenn der Graf es nur mit unterwürfigen kleinen Landadeligen zu tun gehabt hätte und wenn zu dieser schwachbrüstigen Verschwörung nicht eine größere Umsturzbewegung hinzugetreten wäre; gemeint ist jene halb politische, halb philosophische Sekte, die aus Frankreich und Deutschland zu uns gekommen ist und die im Guten wie im Schlechten sehr viel zur Zersetzung des Leichnams der Serenissima beigetragen hat. 100 Als dieser Tropf von einem Grafen sich vor Jahren auf die weitverzweigte Erneuerungsbewegung einließ, glaubte er, deren mächtige Mittel zum eigenen Vorteil nutzen zu können, und erst spät wurde ihm klar, dass er durch die zahlenmäßige Übermacht und den Willen der Mehrheit erdrückt und oft zu Dingen verleitet wurde, die er gar nicht wollte. Aber die Angst vor der Geheimgesellschaft war dann im entscheidenden Augenblick stärker als alle anderen Bedenken; bloß dass er nach jeder dieser Eskapaden dann nach Venedig eilte, um dort in allen Ehren dafür Abbitte zu leisten. So glaubte er sich durchzulavieren, bis er ein Zipfelchen venezianischen Adels ergattert hätte und dadurch im Rat der Zehn oder in irgendeinem anderen Geheimtribunal auftreten könnte, um dort, beschlagen, wie er in der Materie war (der arme Narr!), gewisse Maßnahmen zur Zerschlagung dieser obskuren Brüderschaften zu veranlassen.
So kam es, dass Celio, der einen offenen und entschlossenen Charakter besaß, von daher leicht zu täuschen, aber niemals zu beugen war, und der aus jugendlicher Unrast in diesen trüben Gewässern fischte, sich an der Seite des Grafen Carmini fand. Anfangs bewunderte er ihn wegen gewisser kühner Reden und seines rauen, kriegerischen Auftretens, das sich so sehr von der venezianischen
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