Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
«Direktheit» und für seine unkonventionelle Kleidung.)
Eines Tages, als ich beschloss, zum Grammophonabend zu gehen, und vor der Tür des Grammophonraumes stand und versuchte, den Mut aufzubringen, hineinzugehen, hörte ich Klavierspiel. Ich öffnete die Tür und lugte hinein, und da saß Mr Forrest und spielte Klavier. Er hörte sofort auf und wählte die Schallplatten für den Abend aus. Aber ich hatte gehört, wie er Klavier spielte, die Tastatur hinauf und hinunter, bravourös wie ein Konzertpianist; er ordnete die Noten in einer fortschreitenden Bewegung an, wie eine Truppe, die irgendwohin marschiert, und suchte nicht einfach einzelne Noten heraus, die dann eine «Melodie» ergaben, trennte sie nicht voneinander, sodass sie in der Gesamtheit des Musikstücks kein Mitspracherecht hatten. Abgesehen von meinen geliebten Schubertliedern und den «Melodien» aus Walt Disneys
Fantasia
und von den neuen Liedern, die wir an der Pädagogischen Hochschule gelernt hatten, einschließlich alter Weisen wie
Irgendwann wird dieses Kind
Ein Arbeiter, wie wir es sind,
Bekommt mein ganzes Hab und Gut,
All meine Bretter, Bohrer, Hobel,
Den Hammer, der so wichtig tut …
und
Kleiner Jesus, rühr dich nicht, schlafe sacht,
Einen Pelzrock legen wir auf dich zur Nacht,
verstand ich wenig von klassischer Musik, und ich hatte mir noch nie ein langes Musikstück angehört – eine Symphonie oder ein Konzert. An jenem Tag spielte Mr Forrest eine Schallplatte von Tschaikowskis
Symphonie Pathétique
, und ich saß inmitten der kleinen Schar von Studenten und hörte zu, wie die ungewohnten Klänge ihre schreckliche Last der Schwermut mit sich schleppten und schleppten, und immer weiter, und als die Musik bei der «Melodie» angelangt war, die mir als
Das ist das Märchen einer Sternennacht
Die fahle Glorie einer Sternennacht …
bekannt war, empfand ich die Wonne des Wiedererkennens. Ich hörte bis zum Ende zu, verliebt in die Musik und ihre aufwühlende Traurigkeit, und Tschaikowski wurde (nach Schubert) zu meinem Lieblingskomponisten.
«Ich nehme an, Sie alle kennen César Franck», sagte Mr Forrest.
Die Zuhörer blickten, als wäre ihnen César Franck bekannt.
«Nächstes Mal spielen wir César Franck», sagte Mr Forrestund sprach den Namen mit einer solchen Sicherheit und Vertrautheit aus.
Das Musikzimmer wurde zu einem weiteren Ort, an dem ich mich zu Hause fühlte und wo ich lernte, mir Musik anzuhören, die länger als drei oder fünf Minuten dauerte. Warum hatte ich nicht schon früher gewusst, dass das Anhören einer Symphonie dasselbe war wie die Lektüre eines Buches, mit all ihren Harmoniefolgen, ihrer ganz speziellen Form und ihren stillen und lauten Momenten? Ich lernte, ganz unbekümmert zu sagen: «Adagio – hat dir das
Adagio
gefallen? Diese
Andante
-Stelle …» Ich begann, Klavier-Matineen in der Stadthalle zu besuchen, und obwohl ich anfangs an den falschen Stellen klatschte, weil ich dachte, die Musik sei zu Ende, war mir der Aufbau bald klar. Ich redete auch wie die Leute, die regelmäßig Konzertabende und Symphoniekonzerte besuchten: «Ach, da riecht man doch die Mottenkugeln in den Pelzmänteln! Sie gehen nur einmal im Jahr ins Konzert. Man stelle sich das vor, einmal im Jahr! Und dieses Gehuste, genau in der Mitte des langsamen Satzes, sie haben nicht einmal an den Stellen gehustet, an denen es nicht so viel ausmacht, wenn man ein Hüsteln oder Räuspern einschmuggelt!»
Und eines Tages sah ich John Forrest verblüfft in neuem Licht, als er im Musikzimmer auf einmal sagte: «Aber Schubert ist mein Lieblingskomponist.»
Schubert!
An die Musik. Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden …
Trotz der Sorgen wegen des Unterrichtens und meiner Zukunft empfand ich das Jahr überwiegend als angenehm. In der Schule und an der Universität dachte ich kaum an zu Hause und an meine Familie, und wenn ich eines meiner wenigen Wochenenden daheim verbrachte, versuchte ichmich von dem Ort und den Menschen zu distanzieren. Die Mitglieder meiner Familie erschienen mir wie müde Gespenster, die für diesen Anlass wieder lebendig zu werden versuchten; sowohl Mutter als auch Dad wurden immer noch von
Mühen und Plagen
verfolgt, und die zusätzliche Müdigkeit lag nun in dem langen Weg den Hügel hinauf, den Dad mit seiner selbstgemachten ledernen Arbeitstasche, vollgestopft mit Eisenbahnkohle, zurücklegte und Mutter tagsüber, wenn niemand zu Hause war, mit den Lebensmitteln, die der Junge vom Supermarkt beim
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