Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
würde.
8
1945: Zwei
Trunken von dem Gefühl der Freiheit, aller Sorgen ledig, genoss ich zunächst einfach den Glanz des Morgens. Dann bekam die Realität die Oberhand und lenkte mich in Richtung London Street, die Straße der Ärzte, und ich entschied mich für eine Praxis am Fuß des Hügels und ging hinein, um einen Dr. William Brown aufzusuchen – ein mir denkbar harmlos und anonym erscheinender Name. Ich erklärte Herrn Dr. Brown, ich sei sehr müde und hätte das Gefühl, eine Ruhepause von einigen Wochen zu benötigen. «Ich unterrichte das erste Jahr», sagte ich und brach in Tränen aus.
Dr. Brown gab mir entgegenkommenderweise ein Attest für den Direktor als Entschuldigung für meine vorübergehende Abwesenheit.
Nachdem ich das Attest in den Briefkasten an der Ecke geworfen hatte, begannen drei Wochen purer Freiheit. Ich besuchte Vorlesungen an der Universität und Konzertabende. Ich las und schrieb. «Ich habe drei Wochen Urlaub», erzählte ich meiner Vermieterin, die, völlig in Anspruch genommen von ihrer Familie, sofort darüber zu reden begann, wann Bob seinen Jahresurlaub nehmen würde. Kathleen und die Kinder wollten so gerne nach Queenstown fahren.
«Ich habe so viel Arbeit», sagte ich, «dass Sie mich bei den Mahlzeiten und so weiter wahrscheinlich nicht oft zu Gesicht bekommen werden, und falls ich nicht zum Abendessen kommen sollte, hinterlasse ich rechtzeitig eine Nachricht.»
«Sie sind so rücksichtsvoll», sagte Mrs. T. «Ich kann mich glücklich schätzen, eine so ruhige Studentin zu haben. Man merkt ja gar nicht, dass Sie im Haus sind, so ruhig sind Sie!»
(Ein reizendes Mädchen, überhaupt kein Problem.)
Am Ende der dritten Woche, als die Schule wieder drohend ins Blickfeld rückte, sah ich mich gezwungen zu erkennen, dass Selbstmord der einzige Ausweg war. Ich hatte die sichtbare Schicht meiner Persönlichkeit – «überhaupt kein Problem, eine ruhige Studentin, stets bereit zu einem Lächeln (falls die schlechten Zähne sich verbergen ließen), immer gut aufgelegt» – so sorgfältig und dicht gewoben, dass nicht einmal ich selbst das Geflecht meiner Täuschung zerreißen konnte. Ich fühlte mich vollkommen allein. Ich kannte niemanden, dem ich mich hätte anvertrauen, bei dem ich mir hätte Rat holen können; und ich wusste nicht, wohin ich mich wenden sollte. Was
um alles in der Welt
konnte ich tun, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und dennoch als ich selbst zu leben, so, wie ich war? Zeitweilig hatten Masken ihren Sinn, das wusste ich; jeder trug sie, sie waren bei den Menschen groß in Mode; aber nicht Masken, die so fest zementiert waren, dass der Träger nicht mehr atmen konnte und schließlich erstickte.
Am Samstagabend räumte ich mein Zimmer auf und ordnete meine Habseligkeiten; dann schluckte ich ein Päckchen Aspirin und legte mich ins Bett, um zu sterben, in der Gewissheit, dass ich sterben würde. Meine Verzweiflung war extrem.
Am nächsten Morgen, gegen Mittag, wachte ich mit einem Dröhnen in meinen Ohren und mit Nasenbluten auf. Mein erster Gedanke war nicht einmal ein Gedanke, es war ein Gefühl des Staunens und der Freude und Dankbarkeit,dass ich am Leben war. Ich torkelte aus meinem Bett und sah mich im Spiegel an; mein Gesicht war dunkelrot. Ich begann mich zu erbrechen, immer wieder. Schließlich hörte meine Nase auf zu bluten, aber das Dröhnen in meinen Ohren blieb. Ich legte mich wieder ins Bett, schlief weiter und wachte um etwa zehn Uhr abends auf. In meinem Kopf hämmerte es noch immer, mir klangen die Ohren. Ich lief ins Badezimmer, drehte den Wasserhahn auf und erbrach mich abermals. Mrs T., die das Wochenende bei Kathleen verbracht hatte und seit etwa zwei Stunden zu Hause war, öffnete ihre Schlafzimmertür.
«Ist alles in Ordnung?», fragte sie.
«O ja», rief ich. «Alles bestens. Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.» (Kein Problem, überhaupt kein Problem.)
«Kathleen und Bob stecken mittendrin in allem», sagte Mrs T. ohne weitere Erklärung, doch offensichtlich erfreut. «Mittendrin in allem.» Wir sagten einander gute Nacht, und ich ging in mein Zimmer und schlief.
Am nächsten Morgen, dem gefürchteten Montag, erwachte ich fast ohne Kopfschmerzen.
«Mein Urlaub ist verlängert worden», sagte ich zu Mrs T. «Ich habe wissenschaftlich zu arbeiten.» Ich war nun so überglücklich, dass ich am Leben war, wo ich doch die Absicht gehabt hatte zu sterben, dass die Schule das geringste Problem schien. Ich erklärte
Weitere Kostenlose Bücher