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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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von der festungsartigen Fassade auf die Princes Street hinaus und auf die gegenüberliegende Seite, auf die Behandlungsräume der Zahnärzte und die Versicherungsbüros. Das ganze Personal war im obersten Stockwerk untergebracht.
    Ich trug einen gestärkten weißen Arbeitskittel, weißeSchuhe und eine gestärkte Haube. Man wies mir eine «Station» oder Tischgruppe zu, die ich zu bedienen hatte, und ich lernte rasch die Ausdrucksweise und das Verhalten, das von mir erwartet wurde. Ich machte mich auch mit den üblichen Gepflogenheiten vertraut, angefangen mit dem Benehmen, das man gegenüber der Oberkellnerin, dem Direktor und seiner Frau an den Tag zu legen hatte (deren Ähnlichkeit mit jenen, die ich in Christchurch gekannt hatte, mich verblüffte, bis ich begriff, dass ein solches Gewerbe von Menschen ausgeübt wird, die sich äußerlich wie innerlich gleichen), bis hin zur Küchenroutine und zum Tischdecken, der ganz bestimmten Weise, in der man die Servietten zu einer Rosette faltete. Ich lernte auch, die Erregung der anderen Kellnerinnen zu spüren, wenn Gäste gingen und Aussicht bestand, dass ein Trinkgeld unter dem Teller hinterlassen worden war. Die Stammgäste, die reichlich Trinkgeld gaben, waren bekannt, und man wetteiferte darum, sie an den eigenen Tischen zu platzieren, doch Doreen, die Oberkellnerin, eine kleine blonde Frau in Schwarz mit Spitzenkragen und Spitzenmanschetten, bestimmte die Sitzordnung für wichtige Gäste und übernahm dann oft die Station, sodass sie es war, die die Abschlusstrophäen des Bedienens einkassierte. Die Kellnerinnen beobachteten einander mit scharfem Blick, es gab Augenblicke ängstlicher Besorgnis, wenn die Gäste ihre Teller beiseiteschoben, und man näherte sich dem Tisch mit gespielter Gleichgültigkeit, hob den Teller diskret hoch und steckte das Trinkgeld ein. Ich schämte mich meiner steigenden Erregung an Tagen, wenn ein Gast abfuhr, und meiner versteckten, heftigen Gier, wenn ich das Trinkgeld in die Hand gleiten ließ und dort behielt, bis ich es unbeobachtet in die Tasche stecken konnte.
    Das Grand Hotel war ein angenehmer Arbeitsplatz. Es gefiel mir, in meiner Uniform, mit der Serviette über dem Arm, im Speisezimmer herumzugehen. Ich war stolz darauf, dass ich mich an die Bestellungen erinnern und die Teller übereinanderstapeln konnte. Das Personal hatte die Freiheit, sich die Urlaubstage und die Arbeitszeit selbst einzuteilen, und oft konnte ich mit einer anderen Kellnerin tauschen, sodass ich zwei oder drei Tage hintereinander frei hatte und entweder heim nach Willowglen fuhr oder im Hotel blieb und die Sicherheit genoss, die es bedeutete, einen Platz zum Schlafen, gutes Essen und einen Verdienst von sechs Pfund
netto
die Woche zu haben. Ich kaufte eine gebrauchte Schreibmaschine und begann Erzählungen und Gedichte zu schreiben. Ich schrieb «Die Kellnerinnen» und «Der Fahrstuhlwärter», Gedichte, die im
Listener
veröffentlicht wurden. Ich schrieb über Kafka und über ein Konzert des Alma-Trios und ein Gedicht mit dem Titel «Über die Bezahlung der ersten Rate», das Ergebnis eines unbesonnenen Vorstoßes in die Welt der Ratenzahlung, als ich eine Musiktruhe mit Plattenspieler und eine Schallplatte kaufte, Beethovens Siebte Symphonie, die ich im Konzertprogramm des Rundfunks gehört hatte und nun leise in meinem Mansardenrefugium spielen konnte. Der Tanz. Für mich
war
es der Tanz, erfüllt von einer besonderen Freude und Freiheit, mit dem betonten Taktschlag des letzten Satzes, wie das Schwingen eines kristallenen Hammers, tauglich zur Errichtung eines Kristallpalastes ohne Mauern, durchströmt von Luft und Licht aus allen Ecken und Enden der Erde und des Himmels.
    Außerhalb meines Zufluchtsortes verflüchtigte sich mein Flitterwochenentzücken über die Welt des Servierens allmählich. Um mich gegen Fragen über meine «Vergangenheit» zu wappnen, ließ ich die anderen wissen, dass ich «eigentlicheine Studentin» sei und «hoffte, Schriftstellerin zu werden». Zu meinem Leidwesen war mir bewusst, dass ich, die ich in der Welt keinen «Platz» zu haben glaubte und nicht bereit war zu akzeptieren, dass ich überall existieren konnte, mir für eventuelle Fragen die Pose einer heimlichen Prinzessin unter den Küchenjungen zulegte; allerdings nicht in der Öffentlichkeit; nur wenn eine vom Personal in mein Zimmer kam, um über Liebesprobleme zu sprechen – und sollte sie denn, wenn er verheiratet war, und was blieb ihr anderes übrig, ein Leben als

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