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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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bitten. Auch ich saß da und nähte, und mein Faden drang rasch und zielsicher durch das Nadelöhr, wie ein winziger Speer. «Janet, kannst du mir die Nadel einfädeln?», und voll inneren Zorns über ihre Hilflosigkeit nahm ich die Nadel, nicht sanft, und fädelte sie ein mit der blitzgeschwinden Präzision meiner neunundzwanzig Jahre. Sie hatte nie versucht, mit ihren ruhmreichen Schwägerinnen zu konkurrieren und eine geschickte Näherin zu werden, auch hatte sie in all den Jahren keine Zeit gehabt, sich hinzusetzen und zu nähen, während wir Mädchen uns unsere Kleidung seit langem so recht und schlecht selbst anfertigten. Und wenn ich Mutter so hilflos beim Nähen sah, einer Tätigkeit, die ihre einstmals scharfen Augen kaum beansprucht hatte, welche Herzens- und Geistesangelegenheiten vorbehalten gewesen waren, der Dichtung, dem Feuermachen und der Zubereitung der Mahlzeiten, dem Blick auf ihre geliebte «Natur», dann spürte ich die schreckliche Verarmung ihres Lebens, eine endgültige Beraubung, der ich nicht ins Auge blicken konnte. Ich wusste auch, dass ich ihr nie nahe sein würde,denn meine Vergangenheit und meine Zukunft bildeten eine Barriere gegen die Vertrautheit, die sich zwischen Mutter und Tochter entwickelt.
    Ich konnte meine Zukunft nicht länger aufschieben. Ich antwortete auf ein Inserat, in dem ein Hausmädchen im Grand Hotel in Dunedin gesucht wurde, und fügte als Referenzen einen alten Brief des Bürgermeisters von Oamaru und das Empfehlungsschreiben aus der Playfair Street in Caversham hinzu – «stets höflich zu den Gästen … ehrlich … fleißig». Und abermals fuhr ich, auf dem Weg in meine
Zukunft
, mit dem Bummelzug in Richtung Süden, nach Dunedin.

ZWEITER TEIL
    Das Finden der Seide
     
    Getrennt von der Zeit wie eine Seidenraupe von der Seide.

16
Grand Hotel
    Ich stand kurz davor, das dritte Mal, seit ich von der Schule abgegangen war, in Dunedin zu leben, und jedes Mal, zuerst mit den Monaten und jetzt mit den dazwischenliegenden Jahren und Erfahrungen, hatte sich meine Beziehung zu dieser Stadt, die nun meine älteste Bekannte war, vielleicht meine einzige Bekannte, verändert. Ein eigenartiger Reinigungsprozess hatte sich vollzogen – das oberflächliche Staunen, eine Studentin zu sein, war verflogen; dann der zweite Aufenthalt, die Tage der Qual, der Entdeckung der Schizophrenie und der Musik und der gut aussehenden jungen Männer, das Schreiben meiner Erzählungen und mein Versuch, auf poetische Weise verrückt zu erscheinen, das hartnäckige Festhalten an meiner gescheiterten Lehrerinnenlaufbahn, das Entlangschlendern am Leith, das selbst auferlegte, übertriebene Bewusstsein der Tragik,
ich
zu sein – auch diese Tage waren vorüber und hatten den Geist von Jude und Christminster, von Oxford und dem gelehrten Zigeuner mit sich genommen –
    Auf dem Holzsteg bin ich an dir vorbeigegangen,
    In deinem weiten Mantel trotztest du dem Schnee
    Und blicktest gegen Hinksey, winterlich verhangen.
    Und du erklommst den Hügel
    Hinauf bis zu der Cumner-Kette weißen Kuppen;
    Du sahst dich um im dichten Flockentanz,
    Und Christchurch Hall lag da im festlichen Glanz
    – von allen, die je neben Universitätsflüssen und alten Gebäuden aus grauem Stein träumten.
    Jetzt, bei meinem dritten Aufenthalt in Dunedin, waren die Universität und die Pädagogische Hochschule nicht mehr meine Welt: Ich hatte keine Welt. Union Street, Frederick Street, Dundas Street, die ganze frühere Umgebung, sie waren wie Spielzeugstraßen mit Spielzeughäusern, in denen die Spielzeugmenschen durch neue Spielzeugmenschen ersetzt worden waren, die noch immer über die alten Themen redeten und lachten.
    Ich nahm ein Taxi vom Bahnhof bis zum Grand Hotel, das stattlich an der Ecke stand mit seinem lackierten Holz und seinem polierten Messing, wie ein stolzes Schiff. Die Direktorin, würdevoll, doch leicht betrunken, kam ins Foyer und erklärte, es müsse sich um einen Irrtum handeln, sie benötigten eine
Kellnerin
und kein Zimmermädchen.
    «Vielleicht versuchen Sie es woanders, Miss Frame», sagte sie, während ich, bereits meine schlummernden, verletzten Wurzeln entrollend, versuchte, keine allzu große Angst und Bestürzung zu empfinden, und rasch erwiderte: «Oh, ich habe Erfahrung als Kellnerin. Dann arbeite ich eben als Kellnerin.»
    «Sie bekommen sechs Pfund netto die Woche, alles inklusive.»
    Alles inklusive.
    Mein Zimmer war ein Mansardenzimmer im obersten Stock, und das kleine Fenster blickte

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