Ein Engel fuer Charlie
aufziehen. Charlie bedauerte es, Starlas schöne blaue Augen nicht sehen zu können. Trotzdem war sie mit ihrer roten Wollmütze und seiner alten wattierten Lederjacke unglaublich hübsch. Eigentlich hatte er diese Jacke geliebt. Es war schade, dass er sie ebenfalls würde weggeben müssen.
„Wie viel Land gehört dir?“ fragte sie.
„Nur fünf Hektar.“
„Nur? Das hört sich ungeheuer viel an.“
„Ich bekomme immer wieder Kaufangebote. So mancher würde hier gern ein wenig Land kaufen, aber mir gefällt die Vorstellung nicht, Nachbarn zu haben.“
„Irgendwie kommst du mir gar nicht wie ein Eremit vor.“
„Ich bin auch kein Eremit.“
„Aber du meidest Menschen.“
„Nicht die Menschen, sondern den ständigen Ärger, den sie mit sich bringen.“
„Du bist der Meinung, dass Menschen Ärger bringen?“ fragte Starla überrascht.
„Nicht alle, aber einige.“ Sie stapften weiter durch den hohen Schnee, und Starla stellte keine weiteren Fragen mehr. Seltsamerweise hatte Charlie das Gefühl, er wäre ihr eine Erklärung schuldig. Auf keinen Fall wollte er, dass sie einen falschen Eindruck von ihm bekam. „Hast du noch nie den Eindruck gehabt, dass du die Erwartungen der anderen nicht erfüllen kannst?“ fragte er.
Sie schien nachzudenken. „Du meinst, dass du das Gefühl hast, den Erwartungen der anderen nicht zu entsprechen?“
„Nein, ich meine, dass du einfach nicht mehr bereit bist, die Erwartungen der anderen zu erfüllen.“
„Nun“, erwiderte sie, „mein Vater hatte sich für mich ein anderes Leben gewünscht, als ich es wollte, und ich musste so lange den Weg gehen, den er für mich ausgesucht hatte, bis ich alt genug war, meinen eigenen zu wählen.
Trotzdem ist mir die Entscheidung schwer gefallen. Schließlich ist er die einzige Familie, die ich habe.“
„Hat dein Leben sich denn überhaupt verändert?“ fragte er. „Dein Dad war Fernfahrer, und du bist es doch ebenfalls.“
Sie lachte leise auf. „Nein, nein! Der Truck gehört meinem Vater. Ich habe ihm nur einen Gefallen getan, weil er sich das Bein gebrochen hat. Ich bin seit einigen Jahren nicht mehr auf der Straße unterwegs.“
„Oh.“ Das überraschte ihn. „Und was hast du in der Zeit gemacht?“
„Ich bin zur Schule gegangen und habe mich niedergelassen.“
Starla hatte das Bedürfnis gehabt, endlich Wurzeln zu schlagen. „Wo wohnst du?“
„In Maine.“
Das war Welten von seinem Leben entfernt. „Ich bin noch nie in Maine gewesen.“
„Es ist wunderbar, dort zu leben. Die frische Luft und das Meer.“
In ihrer Stimme klang eine Begeisterung mit, um die er sie beneidete. Es war lange her, dass er sich für etwas begeistert hatte. Die Gleichgültigkeit, mit der er in den letzten Jahren dem Leben begegnete, begann ihm langsam Sorgen zu machen.
„Schau mal, Daddy“, rief Meredith von hinten. „Dort drüben stehen ganz viele Tannenbäume.“
Charlie richtete seine Konzentration auf die vor ihm liegende Aufgabe und betrachtete die Tannen. „Die sind zu groß, Schätzchen. Die würden nicht ins Haus passen. Wir brauchen einen kleineren Baum.“
Starla wies auf eine Gruppe jüngerer Tannen, die entlang eines gefrorenen Baches standen.
„Die kommen schon eher in Frage.“ Sie gingen auf den Bach zu. „Welcher Baum würde dir denn gefallen?“ rief er seiner Tochter über die Schulter zu.
Meredith sprang vom Schlitten herunter und lief einen Pfad entlang, den der Wind gebildet hatte und wo der Schnee nur noch knöcheltief lag. „Dieser hier“, erklärte sie und zeigte auf eine gut gewachsene Tanne.
„Das ist wirklich der Schönste“, bestätigte Starla ihr.
Charlie zog die Motorsäge aus der Hülle, legte die Sonnenbrille und seinen Mantel auf den Schlitten und ging auf den Baum zu, den seine Tochter ausgesucht hatte.
„Du bleibst bei Starla stehen“, befahl er.
Vergnügt lief das Mädchen zu Starla hinüber, und die beiden sahen zu, wie Charlie eine Schutzbrille aufsetzte und den Antrieb der Motorsäge betätigte. Der Motor erwachte mit lautem Gebrüll, und Meredith quietschte und hielt sich die Ohren zu. Charlie suchte nach einer geeigneten Anschnittstelle und begann, die Tanne zu schlagen.
Einige Minuten später hatte er den Stamm durchsägt, und die Tanne fiel um.
Er stellte den Motor aus und nahm plötzlich den Duft von Tanne und frisch gesägtem Holz wahr. Seit langem hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt.
Meredith lief zu ihm hinüber und bewunderte den Baum. „Das
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